Marianne Schuller (1942–2023)

Wer lesen lernen wollte, wer wirklich erfahren wollte, was es heißt, die Spuren aufzunehmen, die in einem Text zu finden sind – zuweilen offen zu Tage liegen, ohne daß sie gleich auffallen –, konnte in Marianne Schullers Seminaren seine Lektionen erhalten. Das Insistieren auf Wörtlichkeit, das Unterlaufen der Sprichwörtlichkeit, das Lesen Satz für Satz, das Achten auf die Zeichensetzung, heute als methodisches Verfahren des close reading weithin etabliert, vor Jahren aber immer wieder als modisch abgetan, zeugte von einer Ernsthaftigkeit der Lektüre, die den Texten Respekt entgegenbrachte. Und zwar, ohne die Komik zu vergessen, die in einer solchen Haltung steckt, wenn Texte zu ernst genommen, überhöht, gar für sakrosankt erklärt werden – und das unter Bedingungen der Moderne, der Wissenschaftlichkeit und einer kritischen Skepsis gegenüber Autoritäten. Das komische Element ist im Geschriebenen, nicht nur seiner Unzulänglichkeiten wegen, ja oft genug schon enthalten. Das spielerische Aufdecken, das plötzliche Lachen, auch nur durch Betonung einer Nuance, konnte die Bedeutung eines Ausdrucks entstellen, eine Situation zum Kippen, eine Sichtweise ins Wanken bringen. Nicht immer verstand man gleich, worüber man da eigentlich amüsiert war, aber die befreiende Wirkung verspürten intuitiv alle.

Bestürzende Einsichten und untergründiges Kichern ereigneten sich in Marianne Schullers Seminaren auf unerwartbare Weise. Die Kollision von buchstäblicher Genauigkeit mit den Selbstverständlichkeiten des Allgemeinen brachte uns Studierende zum Nachdenken. Lesen hieß, sich auf die Schrift zu stützen und sich zu fragen, was einen Text konstituiert und welche Sprachmacht von ihm ausgeht. Damit verbunden waren Überlegungen zur Schriftlichkeit im Allgemeinen, so daß der Name und das Denken Jacques Derridas unvermeidlich wurden. Was für eine Theoretisierung der Lektüre erforderlich war, holte Marianne Schuller immer auch aus den Texten selbst hervor, den literarischen wie philosophischen. Freud und Nietzsche gesellten sich zu Kleist und Rahel Varnhagen, Schnitzler, Kafka oder Bachmann.

Im Laufe der 1980er Jahre entstanden einige Bücher von akademischen Autorinnen, die unter Studierenden einen legendären Ruf hatten, zu denen Elisabeth Lenks Die unbewußte Gesellschaft (1983) und Rita Bischofs Souveränität und Subversion (1984) ebenso gehörten wie Eva Meyers Zählen und Erzählen. Für eine Semiotik des Weiblichen (1983), Christina von Brauns Nicht ich: Logik, Lüge, Libido (1985) oder Sigrid Weigels Die Stimme der Medusa. Schreibweisen in der Gegenwartsliteratur von Frauen (1989). In diese Riege gehörte auch Marianne Schullers Im Unterschied. Lesen, Korrespondieren, Adressieren (1990).

Im Unterschied war für uns Studierende an der Uni Hamburg ein programmatischer Titel, den wir als Strategie der Distanznahme begriffen (wohl auch als Möglichkeit einer gewissen Exklusivität): ein Versprechen, im Unterschied zum Gewöhnlichen, Normalen, Durchschnittlichen, Allgemeinen und Selbstverständlichen zu lesen, zu denken, zu leben. Die methodische Maxime, durch Unterscheidungen hindurch zu Einsichten zu gelangen, die nicht sich bündig als Bestimmtheit festmachen ließen, enthielt die Aufforderung, nicht nur trennend zu unterscheiden oder die Beziehung zwischen der einen und der anderen Seite zu bedenken, sondern auch und vor allem das Dazwischen als eigenständige Kategorie, als andere Möglichkeit wahrzunehmen, zu konturieren, stark zu machen. Das Aufspüren der Unklarheiten, Inkonsistenzen und Brüchen im Denken, in den Vorstellungswelten, Leidenschaften und Wünschen vollzog sich über die genaue Lektüre von Texten, in denen sich die Spuren von Imperfektion, von Rissen, Unmöglichkeiten bis hin zum Unsinn zeigen ließen.

Die Aufsätze dieses Bandes sind literaturgeschichtlich marginalisierten Autorinnen wie Meta Klopstock und Rahel Varnhagen ebenso gewidmet wie jenen »literarischen Szenerien und ihren Schatten«, die für die Wissensgeschichte der Geschlechterdifferenz von zentraler Bedeutung sind (ob Hysterie um 1900 oder neuer Feminismus in Italien), oder auch Konzepten eines »anderen Gedächtnisses« (Helga Hajdu, Frances Yates, Nietzsche und Benjamin, Freud und Derrida). Sie stellen weniger eine Einführung in neue theoretische Diskurse dar als vielmehr die Erprobung eines neuen Denkens an Texten der Literatur und Theorie, das sich von einer Psychoanalyse her entwickelte, die den damals notwendigen Umweg über Frankreich erforderte. Jacques Lacans Rückkehr zu Freud (so Sam Webers Wiederaufnahme dieser Lacan’schen Maxime 1978) als eine Revolution gegen die etablierte und von der IPA gehütete Auffassung von Praxis und Theorie war auch im deutschen Sprachraum auf großes Interesse gestoßen und hatte erste Übersetzungen (von Norbert Haas, Hans-Joachim Metzger u.a.) hervorgebracht. Neben Lacans Herausforderungen und dem dekonstruktiven Denken eines Jacques Derrida konnten wir die eigenständigen Stimmen von Julia Kristeva oder Luce Irigaray in Marianne Schullers Seminaren kennenlernen. Dabei geriet die Literatur keineswegs in die Mühlen einer diskursiven Thesenproduktion, vielmehr zeigten sich die Texte als aufregende Zeugnisse und raffinierte Strategien, denen man nicht beikommen konnte, wenn man nicht selbst las – und das hieß: sich der Sprache und dem Schreiben auszusetzen, dem literarischen Eigensinn nachzuspüren und das kleinste Detail zu würdigen – gerade auch gegen eine vorschnelle Theoretisierung.

Marianne Schuller war eine Professorin, ja – vor allem aber war sie eine Hochschullehrerin, die nicht belehrte, sondern viel zu sagen hatte, worüber wir mit ihr ins Gespräch gerieten, zu eigenen Gedanken herausgefordert wurden und auf produktive – wenn auch nicht immer leichte – Weise in Bewegung kamen. Sie stellte keine Kardinalthesen in den Raum, zu denen man sich kritisch verhalten sollte, sondern zeigte auf, wo das Eindeutige ins Zwielicht übergeht, die Selbstverständlichkeit sich selbst nicht mehr versteht oder eine absolute Entgegensetzung zugleich einen wenn auch verschlungenen Zusammenhang bildet.

Der Untertitel der Essaysammlung Im Unterschied machte Leser_Innen von Anfang an klare medientheoretisch inspirierte Ansagen, welche methodologische Orientierung hier eingeschlagen wird: »Lesen, Korrespondieren, Adressieren«, eine im Jahre 1990 noch durchweg innovative Perspektive für die germanistische Literaturwissenschaft. Es galt der »nicht repräsentierbaren ‚Prähistorie’ der Repräsentation« (S. 8) auf die Schliche zu kommen, anders gesagt: der Artikulation eines Wunsches: »Im Zuge von Lesen, Korrespondieren und Adressieren an die Grenze der Sprache und ihrer Aufzeichnungssysteme zu stoßen, um in den Texten zu lesen, was sich ihrer Präsenz und der Sinnfunktion entzieht.« (S. 9) Dieses Nachdenken über Voraussetzungen und Bedingungen, Möglichkeiten und Grenzen – bis hin zur Unmöglichkeit einer hermeneutischen Lektüre – stellte etablierte literaturwissenschaftliche Vorgehensweisen in Frage und uns Studierende vor große Herausforderungen. Zugleich ermutigte das Beispiel, das Schuller in ihren Lesarten gab, zum eigenen Ausprobieren. Daß Lesefähigkeit zu den Grundprinzipien der Psychoanalyse gehört, wurde uns dabei nach und nach klar, nicht nur durch die Freud-Lektüren selbst, sondern indem eine Haltung vermittelt wurde, die mitunter an Erfahrungen aus der Analyse erinnerte. Ein Aspekt dessen ist das Zuhören und Hinhören, das Marianne Schuller im Seminarraum praktizierte und forderte, gerade im Lesen und Sprechen von Literatur: das Hören des Klangs und der Nebengeräusche im Geschriebenen, das Entziffern des Unerhörten im Gesagten, das Aufzeichnen der Zwischentöne.

Zudem waren es die Felder des Theaters und der Performativität, die sowohl in der Seminarsituation als auch in der jeweiligen Leseerfahrung ihren Raum gewannen: Dank ihrer Präsenz als leidenschaftliche Leserin sowie ihrer praktischen Erfahrung als Dramaturgin ermöglichte sie es uns, den performativen und dramatischen Charakter in Texten von Kleist und Hölderlin, Rahel Varnhagen und Bettine von Arnim, Stifter und Nietzsche, Benjamin und Kafka, Robert Walser und Fleißer aufzuspüren.

Diskurskritik, Feminismus, Wissenspoetik, Psychoanalyse, Medientheorie – was Universität und was Literaturwissenschaft sein konnten und können, haben Studierende der Uni Hamburg in den 1980er Jahren durch Marianne Schuller (und einige ihrer Kolleg_Innen) erfahren und entwickeln können. Unvergesslich bleiben mir zudem zwei Dinge, die in der universitären Lehre und im wissenschaftlichen Denken eher unwahrscheinlich, aber bei Marianne Schuller präsent und prägend waren: Zum einen ihr überspringender Humor mit seinen kritischen Spitzen, der nie auf Kosten anderer ging – selbst sarkastische Bemerkungen, als Notwehr gegen Verzweiflung begreifbar, behielten ihren Witz. Und zum anderen ihre Praxis einer Subjektivität, nicht als Begründungsinstanz, sondern als Unbestimmtheitsfaktor.

[Anmerkung der Redaktion: Marianne Schullers Webseite versammelt weitere Nachrufe und andere Zeugnisse. Hingewiesen sei auch auf die soeben erschienene, postume Veröffentlichung einer Sammlung von Schullers Texten u.a. zu Sabina Spielrein und Freud/Althusser, Bunte Steine. Texte 1984–2024, hg. v. Iris Därmann, Günther Ortmann, Gunnar Schmidt, Weilerswist 2024, Velbrück.]


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Kommentare

Eine Antwort zu „Marianne Schuller (1942–2023)“

  1. Britta Reiche

    Danke für die Erinnerung an Marianne Schuller, deren Beiträge auch im Colloquium bei Hugo Schmale immer sehr eindrucksvoll waren. Beide sind 2023 gestorben.
    Es ist wieder eine Leerstelle entstanden…vielleicht für Neues.

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