22,- € / 175 Seiten
ISBN 978-3-86485-302-9
Textem Verlag 2023
Inhalt
Editorial
Nora Sdun
Der große Preis – Die Fotografien von Volker Renner
Lilli Gast
Um Antwort wird gebeten
Udo Hock
Anmerkung zur »vollen Befriedigung« (Freud)
Aaron Lahl
En attendant toujours …
Ulrike Kadi
Quittegelb – Kleine Funde zur Genese von Verboten
Christian Kläui
Kinder dieser Erde
Leon S. Brenner
»Morgen werde ich gekommen sein« – Die harte Realität der menschlichen Sexualfunktion
Viktor Mazin
Keine Entlastung und Befriedigung, aber jouissance
Camilla Croce
Jouissance des Stilllebens
Karl-Josef Pazzini
Trennung, Trauer, Lesenlernen
QRT
Extase der privaten Deprivation
Greg Tuck
Masturbation, Masturbationswaren und die Logik des Marktes
Insa Härtel
Mediale Selbst-Stimulation – Exhibierte Griffe in Schritte
Silvia Lippi
Die Schicksale der Masturbation
Einsatz
Karl-Josef Pazzini
2023-05-06 Ukraine Gefühle Hornhaut
Zusätze
Aaron Lahl: En attendant toujours … Elemente der Onanie in einem späten Freud-Fragment (Langversion)
Im Folgenden möchte ich eine Notiz Sigmund Freuds vom 3. August 1938 zum Ausgangspunkt für einige Überlegungen zur Onanie in der Psychoanalyse nehmen.
»Letzter Grund aller intellektuellen und Arbeitshemmungen scheint die Hemmung der kindlichen Onanie zu sein. Aber vielleicht geht es tiefer, nicht deren Hemmung durch äussere Einflüsse, sondern deren unbefriedigende Natur an sich. Es fehlt immer etwas zur vollen Entlastung und Befriedigung — en attendant toujours quelque chose qui ne venait point — und dieses fehlende Stück, die Reaktion des Orgasmus, äussert sich in Aequivalenten auf anderen Gebieten, Absencen, Ausbrüchen von Lachen, Weinen (Xy), und vielleicht anderem. — Die infantile Sexualität hat hier wieder einmal ein Vorbild fixiert.«[i]
Ich konzentriere mich zunächst auf den Ausdruck »en attendant toujours quelque chose qui ne venait point«, der sich übersetzen lässt mit: »stets auf eine Sache wartend, die nicht kam«. Ich bin auf einige Spuren dieses Satzes gestoßen, denen ich hier nachgehen möchte. Dabei werde ich mich zuweilen mehr auf die Biografie Freuds beziehen, aber versuchen, das eigentliche Thema der Onanie im Auge zu behalten. Nach drei Anläufen in Bezug auf das »en attendant toujours…« möchte ich in einem letzten Schritt auf den im Zitat angesprochenen Zusammenhang zwischen der Onanie und dem Symptom der intellektuellen und Arbeitshemmung zurückkommen.
I.
Der Ausdruck »en attendant toujours quelque chose qui ne venait point« stammt aus Émile Zolas 1885 veröffentlichtem Arbeiterroman Germinal[ii], den Freud mutmaßlich während seines Parisaufenthaltes (1885/86) gelesen hat, um sein Französisch aufzubessern. Germinal ist eine Milieustudie über das Leben von Bergwerksarbeitern, mit denen der Autor in Vorbereitung auf den Roman mehrere Monate zusammenlebte. Einfühlsam und detailreich schildert Zola in ihm die unmenschlichen, krankmachenden Arbeitsverhältnisse im Bergwerk sowie die ärmlichen Lebensbedingungen in den Arbeiterdörfern, denen er die feine Welt der Besitzer und Aktionäre gegenüberstellt. Zentrales Ereignis des Romans ist ein vom Protagonisten Étienne angeführter Aufstand, der letztlich scheitert und im Tod vieler Arbeiter endet, nicht zuletzt, weil das Bergwerk durch den Sabotageakt eines Anarchisten geflutet wird.
In Zolas Roman begegnet uns ein Thema, das auch häufig in Freuds Werk auftaucht[iii], nämlich das Vorurteil oder die Beobachtung, dass die sexuellen Sitten im proletarischen Milieu freier, ungehemmter, aber auch gewalttätiger seien. Die beengten Verhältnisse, die Unterbringung ganzer Familien in kleinen Baracken, erlauben gar nicht erst das Aufkommen von bürgerlicher Schamhaftigkeit. So schildert Zola, dass die Affären gewisser Arbeiterinnen im ganzen Dorf bekannt sind und Anlass für Späße, aber auch für Prügeleien bieten, wogegen die Aufdeckung einer lang geheim gehaltenen Affäre im Bürgershaushalt dem gehörnten Ehemann zwar das Herz bricht, aber von diesem zur Wahrung des schönen Scheins geheim gehalten wird. An einer Stelle thematisiert Zola sogar den sexuellen Neid der Bürgersleute auf die Arbeiter, wenn nämlich der betrogene Ehemann sehnsuchtsvoll an den Feldern vorbeigeht, auf denen es die jungen Arbeiterpärchen ohne eigenen Hausstand miteinander treiben. Im Kontext dieser Gegenüberstellung von bürgerlich-neurotischer Empfindsamkeit und proletarischer Verrohtheit ist auch Zolas Schilderung der infantilen Sexualität verortet – und damit komme ich zur Passage, in der der von Freud zitierte Ausspruch steht.
Die Szene: Die drei Heranwachsenden Jeanlin, Lydie und Bébert sollen Löwenzahn für die Zubereitung von Salat sammeln, da infolge von Kürzungsmaßnahmen der Bergwerksbetreiber das Brot immer knapper wird. (Später wird Brot dann zu einem zentralen Thema des Romans; die immerzu wiederholte Parole des Arbeiterstreiks lautet »Brot, Brot, Brot«.) Die drei Kinder führen den Auftrag der Eltern aus, verkaufen jedoch den gesammelten Löwenzahn und behalten das Geld für sich. Anführer dieses Plans ist der schon jugendliche Jeanlin, der als frühreifer und egoistischer und im Verlauf des Romans immer brutaler werdender Junge dargestellt wird. Jeanlin behält auch das meiste Geld für sich selbst; für Lydie »verwahrt« er sogar ihren ganzen Anteil, wobei klar ist, dass sie keinen Sous davon bekommen wird. Als Lydie protestieren möchte, wiegelt Jeanlin ab, indem er ihren Einspruch in sexuelle Spielereien überführt, die durchaus etwas Gewaltsames haben. Der dritte im Bunde, der kleine Bébert, der in Lydie verliebt ist, muss sich dabei mit der Rolle des Zuschauers begnügen.
»Um sie stumm zu machen, hatte er sie lachend umfangen und wälzte sich mit ihr am Boden. Sie war sein Frauchen. Sie versuchten in den dunklen Winkeln die Liebe, die sie zu Hause hinter den dünnen Wänden und zwischen den Türritzen sahen und hörten. Sie wußten alles, aber sie konnten noch nicht, denn sie waren zu jung und tasteten daher nur und spielten stundenlang wie lasterhafte junge Hunde. Er nannte dies ›Vater und Mutter spielen‹, und wenn er sie hinwegführte, lief sie mit ihm, und ließ ihn gewähren, mit dem köstlichen Schauer des Instinkts, oft verletzt, aber immer wieder nachgebend, in Erwartung irgendeiner Sache, die nicht kam [dans l’attente de quelque chose qui ne venait point].«[iv]
Vermutlich mehr als 50 Jahr nach seiner erstmaligen Lektüre dieser Passage verwendet Freud einige Zeilen aus ihr, um die unbefriedigende Natur der infantilen Onanie zu beschreiben. Was verbindet diese Szene mit der kindlichen Masturbation? Auf den ersten Blick vor allem das Ausbleiben des Orgasmus in der ziellos betriebenen infantilen Sexualität. (Ein Ausbleiben, das übriges nicht allgemein ist, denn auch Kinder können Orgasmen haben.[v])
Wenn wir das von Zola entworfene szenische Arrangement berücksichtigen, können wir aber noch ein weiteres verbindendes Element erkennen, nämlich die ödipale Anordnung. Jeanlin und Lydie spielen das Papa-Mama-Spiel und wie Freud insbesondere ab den 1920er Jahren behaupten sollte, stellt auch die infantile Onanie, insofern sie regelmäßig mit inzestuösen Fantasien einhergeht, einen Versuch dar, sich probeweise in die Position des Gatten der Mutter oder der Gattin des Vaters zu begeben.[vi] In diesem Sinne könnte gerade der notwendig zum Scheitern verurteilte Versuch, die Generationendifferenz in der ödipalen Fantasie aufzuheben, die kindliche Onanie zu einem unbefriedigenden Unterfangen machen. Denn nach Freud impliziert die ödipale Onanie immer auch das Eingeständnis der Tatsache, die sie zu verleugnen versucht: Um den Ausschluss aus der Urszene masturbatorisch zu negieren, muss er auf einer basalen Ebene bereits registriert worden sein.[vii] Diese ödipale Lesart wird noch dadurch bestärkt, dass sich der Ausschluss aus der Urszene bei Zola nochmals auf Ebene der kindlichen Sexualität reproduziert. Denn der kleine Bébert, unglücklich und sehnsüchtig verliebt in Lydie, wird in Zolas Szene gewissermaßen noch ein zweites Mal zum Kind gegenüber dem Elternpaar gemacht, also auf die Position des ausgeschlossenen, masturbierenden Dritten gesetzt.
Die eifersüchtige Beobachtung des Koitus durch einen Dritten – auch in der Konstellation eines Jüngeren gegenüber elterlichen Figuren – ist ein Thema, das immer wieder in Germinal auftaucht.[viii] So beobachtet der Protagonist Étienne zu Beginn des Romans Catherine, in die er verliebt ist und die auch ihn liebt, mit Chaval (ihrem baldigen Mann) beim Sex auf dem Feld, und seine Eifersucht zieht sich durch das ganze Werk. Am dramatischen Höhepunkt von Germinal finden sich die drei eingesperrt im gefluteten Schacht. Étienne erschlägt Chaval und schläft mit Catherine, während die Leiche seines Antagonisten neben ihnen im Wasser treibt. Der von Freud behauptete Zusammenhang von (ödipalem) Triumph und (Vater-)Mord hätte kaum besser inszeniert werden können. Sicherlich gehört Zola zu den Schriftstellern, die Freud mit dem (mytho-)symbolischen[ix] Material versorgt haben, aus dem er seine Theorie des Ödipuskomplexes geschmiedet hat.
Neben dem Ödipuskomplex verweist uns das Zola-Zitat auch noch auf ein weiteres Element der infantilen Masturbation: die Verführung. Freud hatte sowohl im Rahmen seiner Verführungstheorie als auch in einigen späteren Bemerkungen angenommen, dass die infantile Autoerotik von interpersonellen sexuellen Erlebnissen ausgehen kann, die den Sexualtrieb im Kinde wecken.[x] Es dürfte also kein Zufall sein, dass er in seiner späten Notiz zur Onanie eine Passage zitiert, in der die infantile Sexualität aus Verführungserlebnissen entspringt, nämlich aus dem Belauschen und Beobachten des elterlichen Koitus (»hinter den dünnen Wänden und zwischen den Türritzen«), aber auch aus den Übergriffen Jeanlins, der Lydies »köstlichen Schauer des Instinkts« provoziert. Möglicherweise ist es aber auch dieses potenziell gewaltsame, traumatische Moment der Verführung, das Freud das Zitat hat entstellen lassen. Bei Zola heißt es nämlich »dans l’attente« (in Erwartung) und nicht wie bei Freud »en attendant« (wartend). Ich vermute, diese Verschiebung auf Signifikantenebene ist durch die zu große Nähe des »attente« zum »Attentat« bedingt. Als Attentate pflegte Freud im Rahmen seiner Verführungstheorie Übergriffe durch Erwachsene, aber auch durch ältere Kinder zu bezeichnen.[xi]
II.
Ein Aufsatz, der in mehrerlei Hinsicht einen Bezug zu der von Zola geschilderten Szene hat, ist Freuds Abhandlung über Deckerinnerungen von 1899. Freud gibt hier ein ausgiebiges Gespräch mit einem Patienten über den Status von dessen Kindheitserinnerungen wieder. Es geht darum, wie es kommen kann, dass uns manchmal nur die unbedeutendsten Szenen aus unserer frühen Kindheit in Erinnerung bleiben, wohingegen bedeutendere Ereignisse keinen erinnerbaren bildlichen Abdruck in unserem Gedächtnis hinterlassen haben. Die erinnerte Kindheitsszene dieses Patienten, um die sich der Artikel dreht, weist dabei erstaunliche Ähnlichkeiten zur Szene in Zolas Roman auf:
»Ich sehe eine viereckige, etwas abschüssige Wiese, grün und dicht bewachsen; in dem Grün sehr viele gelbe Blumen, offenbar der gemeine Löwenzahn. Oberhalb der Wiese ein Bauernhaus, vor dessen Tür zwei Frauen stehen, die miteinander angelegentlich plaudern, die Bäuerin im Kopftuch und eine Kinderfrau. Auf der Wiese spielen drei Kinder, eines davon bin ich (zwischen zwei und drei Jahren alt), die beiden anderen mein Vetter, der um ein Jahr älter ist, und meine fast genau gleichaltrige Cousine, seine Schwester. Wir pflücken die gelben Blumen ab und halten jedes eine Anzahl von bereits gepflückten in den Händen. Den schönsten Strauß hat das kleine Mädchen; wir Buben aber fallen wie auf Verabredung über sie her und entreißen ihr die Blumen. Sie läuft weinend die Wiese hinauf und bekommt zum Trost von der Bäuerin ein großes Stück Schwarzbrot. Kaum daß wir das gesehen haben, werfen wir die Blumen weg, eilen auch zum Haus und verlangen gleichfalls Brot. Wir bekommen es auch, die Bäuerin schneidet den Laib mit einem langen Messer. Dieses Brot schmeckt mir in der Erinnerung so köstlich und damit bricht die Szene ab.«[xii]
Zahlreiche Elemente dieser Erinnerung stimmen mit denjenigen aus Zolas Roman überein: der gepflückte Löwenzahn, das Arrangement mit den drei Kindern (wobei Freuds Patient hier der Jüngste ist), das misshandelte und um ihren Verdienst gebrachte Mädchen sowie das eingeforderte Brot; fast möchte man den sich fraternisierenden Jungs den »Brot«-Schlachtruf des Arbeiteraufstandes in den Mund legen. Andere Elemente weichen vom Roman ab: Anders als bei Zola ist der jüngere Junge zwar in verwandtschaftlicher Hinsicht ausgeschlossen – die anderen beiden sind ja Geschwister –, bleibt jedoch kein bloßer Zuschauer mehr, sondern ist voll in den Überfall auf das Mädchen involviert. Zur Auflösung der Szene durch die versorgende Bäuerin gibt es ebenfalls bei Zola keine Entsprechung. Auffällig ist zudem, dass diese Szene nicht von einem Mangel an sexueller Erfüllung, wohl aber von einem Übermaß an sinnlichen Eindrücken geprägt ist. Freuds Patient selbst erklärte, dass die sinnlichen Eindrücke – das Gelb der Blumen oder der Geschmack des Brotes – geradezu überzeichnet in seiner Erinnerung wirken. Man könnte vermuten, dass es die Intensität des Geschmacks war, der diese Szene überhaupt zum Abbruch geführt hat – so wie man aus dem Traum aufwacht, wenn er zu erregend wird.
Freud und sein Patient, die eine Art sokratischen Dialog führen, begreifen diese Erinnerung nun als Deckerinnerung, und zwar als sogenannte rückläufige oder rückgreifende Deckerinnerung. Das meint, dass sich die erinnerte Szene zwar wirklich so zugetragen habe, dass sie aber überhaupt erst durch spätere Ereignisse, Bestrebungen und Fantasien so bedeutend werden konnte, dass sie sich als signifikante Erinnerungen erhalten habe. Ein Indiz für diese nachträgliche Auswahl der Szene sei, dass der Patient sich in ihr wie in der Beobachterperspektive von außen sehe. Freuds Patient liefert dabei zwei Szenen aus späteren Zeiten, die diese Kindheitserinnerung nachträglich mit Bedeutung aufgeladen haben.
- Erste Szene: Der Patient, der wegen beruflicher Probleme seines Vaters als Kleinkind sein Heimatdorf verlassen musste, war mit 17 Jahren ins Dorf zurückgekehrt und hatte sich umgehend in ein Mädchen verliebt, das ein gelbes Kleid trug. Er bildete dann eine Fantasie mit dem Inhalt: Wenn ich doch nicht hätte wegziehen müssen, wäre ich zu Hause ein kräftiger bäuerlicher Mann geworden und hätte dieses Mädchen geheiratet.
- Zweite Szene: Mit 20 Jahren überlegten sich Vater und Onkel des Patienten, dass er statt seines nutzlosen Studiums ein handfesteres, praktisch verwertbareres Studium angehen und seine Cousine – das Mädchen aus der Kindheitserinnerung – heiraten sollte. Der Patient wollte seinerzeit nichts von diesem Plan wissen, doch als ihn später in seinem Leben Geldnöte plagten, dachte er häufiger an diese ausgeschlagene Option eines bodenständigen Brotberufes und Familienlebens zurück.
Freud und sein Patient rekonstruieren nun – ich lasse dabei einige Zwischenschritte aus –, dass es die Fantasien aus späteren Zeiten sind, die sich im Deckmantel der Kindheitserinnerung Ausdruck verschaffen. Als Einfallstor für diese späteren Fantasien diene dabei das, was Freud später »Wortbrücken« nennen sollte: Die Fantasie von der Brautnacht mit dem gelbgekleideten Mädchen bzw. mit der Cousine drücke sich im Klau der gelben Blumen, d.h. der Defloration, aus. Und der Gedanke an ein Sicherheit gewährendes Brotstudium finde seinen Ausdruck im wohlschmeckenden Brot der infantilen Szene. Freud schlussfolgert daraus, dass das Gelb der Blume und der Geschmack des Brotes genau deshalb so grell überzeichnet sind, weil sich die späteren Wünsche in diesen Bildelementen artikulieren.[xiii]
Nun wissen wir, seitdem erstmals Siegfried Bernfeld den Nachweis geführt hat[xiv], dass der Patient aus dem Deckerinnerungsaufsatz Freud selbst war. Nicht nur ist die Übereinstimmung von Freuds Biografie mit derjenigen seines Patienten bis ins Detail nachweisbar. Auch spricht sein späteres Verhalten gegenüber diesem Artikel, den er (in einer Zeit, in der er berühmter wurde) tendenziell zu verheimlichen versuchte, deutlich für diese These. Und schließlich müssen wir bedenken, dass Freud nicht einmal lügt, wenn er sich als einen seiner Patienten bezeichnet, denn die Deckerinnerungsschrift ist noch in Zeiten seiner intensiven Selbstanalyse verfasst.
Die biographische Rekonstruktion von Bernfeld und vielen, die ihm folgten[xv], verrät uns: Das Dorf der Kindheitserinnerung ist das mährische Freiberg, in dem Freud bis in sein viertes Lebensjahr aufgewachsen war, bevor die Familie wegen ökonomischer Probleme über Leipzig nach Wien ziehen musste. Die beiden Kinder sind Freuds etwa gleichaltriger Neffe John sowie seine etwas jüngere Nichte Pauline, Kinder seines deutlich älteren Halbbruders Emanuel. In einem Brief an Wilhelm Fliess, verfasst etwa in derselben Zeit wie seine Deckerinnerungsschrift, finden wir sogar die in ihr beschriebene Szene angedeutet: »Auch den Genossen meiner Untaten zwischen 1-2 Jahren kenne ich längst, es ist ein um ein Jahr älterer Neffe, jetzt in Manchester […]. Mit der um ein Jahr jüngeren Nichte scheinen wir beide gelegentlich grausam umgegangen zu sein.«[xvi] Was die Kinderfrau und vielleicht auch die Bäuerin angeht, so dürfte mindestens eine von ihnen Freuds sagenumwobenem Kindermädchen und die andere vielleicht seiner Mutter entsprechen. Auch für die späteren Szenen, die der Deckerinnerung nachträglich ihre Strahlkraft verliehen haben, finden sich Entsprechungen in der Biografie Freuds: Das Mädchen mit dem gelben Kleid ist Gisela Fluss, Freuds Jugendschwarm bei seiner einzigen Rückreise nach Mähren im Alter von 16 (nicht 17)[xvii] Jahren. Und die Verheiratungs- und Brotstudiumspläne hatte es tatsächlich gegeben: Als Freud etwa 20 Jahre alt war, sollte er zu seinem nach England emigrierten Halbbruder ziehen, wo er ein handfestes Ingenieursstudium ergreifen und seine Nichte Pauline – das Mädchen aus der Kindheitserinnerung – heiraten sollte. Die Geldnöte schließlich, die Freud als Grund für die Fantasie vom Brotberuf erwähnt, entsprachen seiner prekären finanziellen Situation bis in sein viertes Lebensjahrzehnt hinein.
Vermutlich fällt die Zeit der Bildung der Deckerinnerung in die insgesamt viereinhalb Jahre andauernde Phase des Verlobtseins mit Martha Bernays. Aufgrund von Freuds mangelndem bzw. unsicherem ökonomischen Einkommen und weil Martha keine Mitgift in die Ehe mitbringen konnte, mussten die beiden die Hochzeit und die Gründung eines gemeinsamen Hausstandes immer wieder aufschieben. Die Not betraf in dieser Zeit nicht nur das materielle, sondern auch das sexuelle Leben, denn es ist davon auszugehen, dass Freud vor Abschluss der Ehe einen tendenziell keuschen sexuellen Lebensstil pflegte. Deflorations- und Brotberufswünsche konnten auf dem Boden dieser Notsituation gut gedeihen.
Nun wissen wir nicht, ob Freud in dieser Zeit onaniert hat und es ist auch nicht wirklich interessant.[xviii] Es ist allerdings davon auszugehen, dass sich ihm die Onanie in der Zeit des immerzu verlängerten vorehelichen Wartestandes als Option angeboten oder gar aufgedrängt hat. Vor diesem Hintergrund fällt die Ähnlichkeit der Kindheitserinnerung (bzw. der Versatzstücke, aus denen sie gebildet ist) mit einem sexuellen Tagtraum oder einer Onaniefantasie ins Auge. Im Grunde reaktiviert diese Erinnerung erotische Träumereien von anderen Frauen, auf die Freud nicht hätte warten müssen. Für die Präsenz des Masturbationsthemas in dieser Erinnerung finden wir zudem einige Anhaltspunkte in dem Aufsatz selbst: Dass das Ausreißen (eines Astes) ein Symbol für die Onanie sei – getreu dem damals geläufigen Ausdruck »sich einen ausreißen« –, behauptet Freud nämlich erstmals just in genau diesem Aufsatz. Dass er diesen Gedanken ans Ende des Textes stellt und nicht selbst auf die Kindheitserinnerung bezieht, könnte eine Absicherung für den Fall dargestellt haben, dass er als sein Patient identifiziert werden würde.[xix] Die Deutung, dass die Kindheitserinnerung vom gepflückten Löwenzahn den Impuls, sich einen »auszureißen«, d.h. zu onanieren, ausdrückt, wird ferner dadurch bestärkt, dass der Löwenzahnstängel eine weißliche (häufig für giftig gehaltene) Flüssigkeit absondert, wenn man ihn abreißt – ein Umstand, auf den Didier Anzieu in diesem Zusammenhang hingewiesen hat.[xx] Es verwundert vor diesem Hintergrund nicht, dass die Kindheitserinnerung vom gepflückten Löwenzahn von einigen Autoren als entstellte Masturbationsfantasie bzw. als Symbolisierung des Impulses zur Masturbation gedeutet wurde.[xxi]
Wie kann man dann aber die (von der Freudforschung bislang scheinbar noch nicht registrierte) starke Übereinstimmung der Passage bei Zola mit der Deckerinnerungsszene erklären? Man kann mutmaßen, dass Freud die Kindheitserinnerung überhaupt erst anlässlich seiner Zola-Lektüre gebildet hat, nämlich während seines Parisaufenthaltes, rund ein Jahr vor seiner Hochzeit mit Martha. Vielleicht hat sich ihm bei dieser Lektüre der Ausdruck »en attendant toujours« so eingebrannt, weil er seiner aktuellen Situation so sehr entsprach: dem Wartestand auf eine Sache, die nicht kommen wollte. Vielleicht vermischten sich ihm dabei Erinnerung, Tagtraum und Gelesenes auf eine ihm selbst nicht transparente Art und Weise. In diesem Sinne könnte man die Tatsache, dass Freud die Kindheitsszene aus der Beobachterperspektive erinnert, auch als Hinweis darauf werten, dass er die bei Zola dargestellte Szenerie mit subjektivem Inhalt füllt. Das bleibt aber natürlich alles Spekulation.
Ich bin hier schon recht weit in die biographische Analyse eingestiegen. Natürlich könnte man aber auch noch weiter gehen. Denn bislang habe ich nur – Freuds eigener Analyse folgend – die Deckerinnerung als eine rückgreifende beschrieben. Aktuelle Wünsche (Brotberuf, Hochzeit, die Option der Onanie und möglicherweise auch der Ärger über seine schlecht bemittelte Verlobte) verschanzen sich dieser Analyse zufolge in der Erinnerung an das kindliche Treiben auf der Wiese. Doch natürlich kommen hier auch andere zeitliche Strukturen in Frage: Deckerinnerungen können auch vorgreifend oder gleichzeitig sein.[xxii] In diesem Sinne kann man fragen, was für Kindheitserfahrungen Freuds sich in dieser Szene verdeckt ausdrücken. Man wird dann neben den möglicherweise doch nicht so unschuldigen Spielen mit John und Pauline[xxiii] schnell auf das Trauma der Migration, auf den Komplex des Kindermädchens (das Freud als seine »Lehrerin in sexuellen Dingen«[xxiv] bezeichnete und das, weil es die Familie bestohlen hatte, ins Gefängnis gehen musste), auf die Geburt und das schnelle Versterben des kleinen Bruders Julius und womöglich auch auf die Kastrationsdrohung infolge onanistischer Betätigungen stoßen. Einzelne Elemente aus der Kindheitserinnerung mögen diese Komplexe ausdrücken: Das lange Messer könnte zugleich die Erektion und die Kastration symbolisieren, das Aufschneiden des Brotlaibes könnte eine morbide Geburtstheorie darstellen usw. Auch das bleibt alles spekulativ.[xxv]
Bevor ich nun noch einer weiteren Spur folge, möchte ich das hier gestreifte Verhältnis von Onaniefantasie, Tagtraum und Deckerinnerung noch zum Anlass nehmen, eine allgemeinere Aussage in Bezug auf Onaniefantasien zu treffen. Ich gehe davon aus, dass Onaniefantasien strukturell so aufgebaut sind wie Deckerinnerungen, das heißt, dass sie gemachte Erfahrungen auf eine selbstgerechte Weise neu erinnern, interpretieren und transformieren. Es gibt nur wenige Analytiker, die in ihren Analysen wirklich so weit vorgedrungen sind, die Onaniefantasien ihrer Analysanden auseinanderzunehmen und in ihrer lebensgeschichtlichen Genese zu erhellen. Robert Stoller[xxvi] und im deutschsprachigen Raum Reimut Reiche[xxvii] wären hier zu erwähnen; zudem hat es der britische Analytiker Brett Kahr mit einem recht aufwendigen Interviewdesign geschafft, Masturbationsfantasien im nicht-klinischen Kontext lebensgeschichtlich zu durchleuchten.[xxviii] Alle diese Autoren fanden regelmäßig Verkehrungen von Kränkungserfahrungen und Traumata, aktuelle wie vergangene Notsituationen, Unverstandenes aus der frühen Kindheit und frustrierte Bedürfnisse nach Bindung, Anerkennung oder Bewunderung in Masturbationsfantasien verdichtet. Masturbationsfantasien sind mit Lacan gesprochen ein imaginärer Schirm, der nur in verschlüsselter Form das hinter ihm Liegende erahnen lässt. Oder um ein Gleichnis Stollers zu bemühen: Masturbationsfantasien sind wie »Microdots« aufgebaut: von Geheimdiensten verwendete Zeichen, die in Stecknadelgröße den Inhalt einer ganzen Buchseite verstecken.[xxix]
III.
Es gibt noch eine weitere Stelle in Freuds Werk, an der er sich auf die hier diskutierte Szene bei Zola bezieht, nämlich in seiner Analyse seines »Traumes vom Grafen Thun«. Ich kann diesen recht langen Traum und dessen hoch komplexe Analyse hier nicht wiederholen. Nur so viel möchte ich wiedergeben: Der Traum beginnt damit, dass auf einer Studentenversammlung ein Graf den Huflattich für die Lieblingsblume der Deutschen erklärt. Freud schreibt in der Analyse dann seine Assoziationen zum Huflattich auf: Über lattice – Salat – Salathund (der Hund, der anderen nicht gönnt, was er doch selbst nicht frisst) kommt er dann zum Hund. Dann fügt er hinzu:
»Außerdem übersetze ich mir – ich weiß nicht, ob mit Recht – Huflattich mit ›pisse-en-lit‹. Die Kenntnis kommt mir aus dem ›Germinal‹ Zolas, in dem die Kinder aufgefordert werden, solchen Salat mitzubringen. Der Hund – chien – enthält in seinem Namen einen Anklang an die größere Funktion (chier, wie pisser für die kleinere). Nun werden wir bald das Unanständige in allen drei Aggregatzuständen beisammen haben; denn im selben ›Germinal‹ […] ist ein ganz eigentümlicher Wettkampf beschrieben, der sich auf die Produktion gasförmiger Exkretionen, Flatus genannt, bezieht.«[xxx]
Freud unterlaufen hier gleich zwei Fehlleistungen. Er übersetzt den Huflattich fälschlicherweise mit pissenlit, dem französischen Ausdruck für Löwenzahn. Und dann meint er, die Szene eines Furzwettbewerbs im Germinal zu erinnern – obwohl sie eigentlich aus einem anderen Roman Zolas stammt, nämlich La Terre. Letzteren Fehler korrigiert er in einer Fußnote, nur aber um die Assoziation zwischen Huflattich und Flatus noch einmal zu bestärken, indem er auf die Klangähnlichkeit beider Wörter verweist. Ich gebe eine kurze Übersicht zu Freuds Assoziationen:
Huflattich – pissenlit – pisse-en-lit
Huflattich – lattice – Salat – Salathund – Hund – chien – chier
Huflattich – pissenlit – Germinal-Szene – (Zola – La Terre –) Flatus
Huflattich – Flatus
Drei weitere Assoziationswege, die Freud nicht erwähnt, könnten so ausgesehen haben:
Huflattich – pissenlit – Germinal-Szene – »chiens vicieux«[xxxi] – chier
Huflattich – »Wanderers Klopapier«[xxxii]
Huflattich – Hufeisen – weibliches Genital[xxxiii]
Der Weg, der Freud in seiner Analyse des Traumes vom Grafen Thun vom Huflattich zu den exkrementellen Funktionen führt, ist also vermittelt über die Zolasche Szene. Oder andersherum: die Zolasche Szene gewinnt durch diese Assoziationen – die wiederum über Wortbrücken gehen – eine exkrementelle Bedeutung. Zum unbefriedigenden Charakter der infantilen Onanie tritt damit ein neues Moment hinzu: die kindliche Sexualität als das Überschüssige, Anstößige, Perverse.
Von hier aus bietet sich auch eine andere Lesart von Freuds Deckerinnerung an. Vielleicht vertritt das Gelb der Blumen auch die Farbe des Urins und vielleicht ist das köstliche dunkle Brot eine verkehrte Darstellung des zunächst interessanten und dann verschmähten Kots. Von Brot zu Kot lässt sich auch mit wenig Aufwand eine Wortbrücke schlagen. In diesem Sinne würde Freuds Kindheitserinnerung also nicht nur spätere genitale und ökonomische Wünsche decken, sondern auch die infantile Lust am Spielen mit Urin, Kot, Flatus.
Ich möchte hieraus nun einen allgemeinen Charakter der infantilen Onanie ableiten. Genauer gesagt, müsste man hierbei aber vom Autoerotismus sprechen, ein Begriff, der weiter angelegt ist als der der Onanie und der eben die nicht-genitalen Aktivitäten der Selbststimulation und -befriedigung umschließt. Dieser nicht-genitale Charakter der infantilen Autoerotik lässt sich im Verhältnis zur erwachsenen Sexualität nur in einer Paradoxie artikulieren. Einerseits kann man auch die perverse Autoerotik des Kindes im Sinne der ödipalen Unbefriedigung auslegen. Kinder tendieren dazu, sich den Koitus der Eltern oder die Geburt von Geschwistern als urinales, anales oder auch sadistisches Geschehen vorzustellen bzw. zu entsprechenden Fantasien zu masturbieren. In diesem Sinne ist die perverse Autoerotik des Kindes durch einen Mangel geschlagen. Doch das alleine wäre eine adultomorphe Perspektive. Genauso gut kann man sagen, dass die perverse Autoerotik des Kindes über die Grenzen der erwachsenen genitalzentrierten Welt hinausgeht. Um es mit Lacan zu sagen: Die infantile Autoerotik ist kein phallisches, sondern ein anderes Genießen.
IV.
Ich hoffe, über den Umweg der Analyse des Zola-Zitats verschiedene Aspekte der infantilen Onanie thematisiert zu haben: die Onanie als durch die ödipale Frustration gezeichnete und sie zugleich verarbeitende, man könnte auch sagen: ihr symbolischer Aspekt; die Onaniefantasie als Deckerinnerung, in welcher Geschichte immer zugleich erinnert und entstellt wird: der imaginäre Aspekt; und schließlich die Onanie als perverser Autoerotismus, der ein überschießendes Genießen in sich trägt: der reale Aspekt.
Zum Zusammenhang zwischen Onanie und intellektueller Hemmung bzw. Arbeitsstörung, den Freud in seinem späten Fragment behauptet, möchte ich abschließend noch einige kurze Überlegungen anstellen.
Man kann sich diesen Zusammenhang in einem klassisch-freudianischen Sinne so vorstellen, dass die gehemmten Tätigkeiten unbewusst mit der Bedeutung der Onanie und infolgedessen mit Onaniekonflikten beladen sind. Freud gibt für eine solche Hemmung von nicht-sexuellen Tätigkeiten durch sexuelle Konflikte eine plastische Beschreibung:
»Wenn das Klavierspielen, Schreiben und selbst das Gehen neurotischen Hemmungen unterliegen, so zeigt uns die Analyse den Grund hierfür in einer überstarken Erotisierung der bei diesen Funktionen in Anspruch genommenen Organe, der Finger und der Füße. Wir haben ganz allgemein die Einsicht gewonnen, daß die Ichfunktion eines Organes geschädigt wird, wenn seine Erogenität, seine sexuelle Bedeutung, zunimmt. Es benimmt sich dann, wenn man den einigermaßen skurrilen Vergleich wagen darf, wie eine Köchin, die nicht mehr am Herd arbeiten will, weil der Herr des Hauses Liebesbeziehungen zu ihr angeknüpft hat. Wenn das Schreiben, das darin besteht, aus einem Rohr Flüssigkeit auf ein Stück weißes Papier fließen zu lassen, die symbolische Bedeutung des Koitus angenommen hat, oder wenn das Gehen zum symbolischen Ersatz des Stampfens auf dem Leib der Mutter Erde geworden ist, dann wird beides, Schreiben und Gehen, unterlassen, weil es so ist, als ob man die verbotene sexuelle Handlung ausführen würde.«[xxxiv]
Warum sind nun genau die Onanie und die mit ihr assoziierten Konflikte prädestiniert, Arbeits- und intellektuelle Hemmungen zu verursachen? Ich denke, weil die Onanie die sexuelle Basis des vorstellenden Denkens und damit der intellektuellen Arbeit bildet. Denn was ist die Onanie? Sie ist die temporäre Ersetzung eines Objekts durch ein eigenes Körperteil, kombiniert mit einer Fantasie.[xxxv] Als Berührung des eigenen (sexuellen) Körpers stellt sie die körperliche Urform dessen dar, was im reflexiven Denken eine gedankliche Selbstberührung oder ein innerer Dialog werden wird. Durch die Fantasiebildung eröffnet sie ferner einen Raum des Probehandelns und Problemlösens, der vorbildlich für das produktive Fantasieren überhaupt ist. Die Onanie ist im Sinne Donald Winnicotts im Übergangsbereich zwischen Innen und Außen angesiedelt, die Psychoanalytikerin Gisèle Chaboudez nennt sie ein Übergangsgenießen.[xxxvi] Das heißt, dass sie weder rein regressiv noch rein progressiv ist; sie hat ihre Ausläufer einerseits in den Bereich von Verleugnung, Sucht und Fetisch, andererseits in den von Kreativität und Sublimierung. Angesichts dieser Vermittlungsfunktion der Onanie ist es naheliegend, dass gerade die intellektuelle Arbeit durch eine Hemmung der infantilen Selbstbefriedigung in Mitleidenschaft gezogen wird.[xxxvii] Oder anders: Die intellektuelle Vorstellung bleibt, statt einen Anteil ihrer Kraft aus sublimierter Onanie zu beziehen, unbewusst mit einer konflikthaft aufgeladenen Onanie gleichgesetzt, was sich hemmend auf sie auswirkt. Das wäre möglicherweise der Beitrag der Onanierepression zur »Genese der Dummheit«[xxxviii].
Das bisher Ausgeführte wäre die Langversion des ersten Satzes aus dem Freudzitat: »Letzter Grund aller intellektuellen und Arbeitshemmungen scheint die Hemmung der kindlichen Onanie zu sein.« Diese klassische These erweitert Freud in seinem Fragment allerdings, indem er »tiefer« geht und vermutet, dass nicht die äußere, erzieherische Hemmung der infantilen Onanie, sondern diese selbst – durch ihren unbefriedigenden Charakter – für intellektuelle und Arbeitshemmungen vorbildlich sei. Gehemmtheit wäre in diesem Sinne nicht zu verstehen als Störung einer nicht-sexuellen Ich-Funktion durch Sexualität, sondern als Fortführung einer in der (infantilen) Sexualität selbst angelegten Hemmung auf nicht-sexuellem, hier intellektuellem, Terrain. Die Arbeitsstörung wäre eine intellektuelle Anorgasmie, die auf die grundlegende sexuelle Anorgasmie des Kindes zurückverweist.
Eine solche Herleitung der intellektuellen Hemmungen, einschließlich insbesondere der Prokrastination, hat Einiges für sich. So finden wir in der Symptomatologie solcher Hemmungen nicht nur das ziellose Herumspielen, das an die fehlende Entlastung in der infantilen Sexualität denken lässt. Auch können wir beobachten, wie der Prokrastinierende auf »anderen Gebieten« einen Ersatz sucht, z.B. in orgasmusanalogen Erfahrungen oraler oder analer Art (essen, trinken, rauchen, zur Toilette gehen, Zimmer aufräumen usw.) oder beim Candy-Crush-Spielen, wobei der Smartphonebildschirm den verfehlten Orgasmus für uns zu simulieren scheint.[xxxix] Und schließlich kann auch die Masturbation ein Symptom der Prokrastination sein: Der sexuelle Orgasmus wäre dann ein neurotischer Ersatz des nicht zu erlangenden »Ich-Orgasmus«[xl].
Ich glaube allerdings, dass die Konzeption der Prokrastination als Wiederholung der infantil-sexuellen Unbefriedigung nicht ganz befriedigend ist. Sie ist zu sehr von der adultomorphen, negativen Auffassung der infantilen Sexualität geprägt, und übersieht deren überschießendes Moment. Beide hängen aber durchaus zusammen: Der in der infantilen Sexualität angelegte organische Befriedigungsmangel macht zugleich ihren Zug des unmäßigen Genießens aus, denn gerade das Fehlen einer genitalen Abfuhr treibt den infantilen Autoerotismus über sich und das Lustprinzip hinaus. Die infantile Autoerotik zielt entsprechend nicht auf eine Entlastung, d.h. die Wiederherstellung eines Gleichgewichtszustandes, sondern auf »Erregung bis zur Erschöpfung«[xli] – das heißt auf eine prinzipiell endlose Steigerung der Sexualerregung, die lediglich durch Intervention der Selbsterhaltungsbedürfnisse (z.B. in Form von Müdigkeit) gestoppt wird.
Die intellektuelle Hemmung wäre vor diesem Hintergrund nicht (nur) als Fortsetzung der infantil-ziellosen Spielerei zu begreifen, sondern (auch) als Abwehr eines überschießenden Erregungspotentials, das von der infantilen Onanie herrührt. Die Prokrastination wäre folglich eine Flucht ins Diesseits des Lustprinzips: Hemmung des autoerotischen Genießens in seiner doppelten Konnotation von Lust und Schmerz.
[i] Freud, Sigmund: Ergebnisse, Ideen, Notizen (Notizen) (1938), in: Gesammelte Werke, Bd. 17, S. 149–152, hier S. 152
[ii] Darauf bin ich aufmerksam geworden durch: Sauret, Marie-Jean: L’allègement du sexe, in: Psychanalyse, 2016, Heft 37, S. 47–57, hier S. 50
[iii] Vgl. z. B. die »Nestroysche Posse« in: Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916/17), in: Gesammelte Werke, Bd. 11, S. 365–367
[iv] Zola, Émile: Germinal, übers. von A. Schwarz, Stuttgart 1974, Reclam, S. 146f. frz. Orig. zitiert nach: ders., Germinal, Moskau 2008, Dodo-Press, S. 116
[v] Vgl. Schuhrke, Bettina: Kindliche Ausdrucksformen von Sexualität, in: Z Sexualforsch, 2015, 28. Jg., S. 161–170, hier S. 165
[vi] Vgl. z. B. Freud, Sigmund: Untergang des Ödipuskomplexes (1924), in: Gesammelte Werke,Bd. 13, S. 395–402, hier S. 398
[vii] »In der Ur-Szene wird eine erregte Beziehung zwischen den Eltern beobachtet oder imaginiert, und dies kann von einem Kind, das gesund und fähig ist, seinen Haß zu meistern und diesen Haß in den Dienst des Masturbierens zu stellen, akzeptiert werden. Beim Masturbieren übernimmt das jeweilige Kind, das die dritte Person einer Dreipersonen- oder Dreieck-Beziehung ist, die volle Verantwortung für die bewußte und unbewußte Phantasie.« Winnicott, Donald W.: Über die Fähigkeit, allein zu sein, in: Psyche – Z Psychoanal, 1958, 12. Jg., Heft 6, S. 344–352 hier S. 346
[viii] Vgl. Grinstein, Alexander: Sigmund Freud’s Dreams, New York 1980, International Universities Press, S. 111–124
[ix] Vgl. Laplanche, Jean: Mythos und Theorie in der Psychoanalyse, in: Psyche – Z Psychoanal, 2021, 75. Jg., Heft 8, S. 710–736
[x] Freud, Sigmund: Weitere Bemerkungen über die Abwehr-Neuropsychose (1896), in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 379–403, hier S. 382; ders.: Abriß der Psychoanalyse (1938), in: Gesammelte Werke, Bd. 17, 63–123, hier S. 115
[xi] Vgl. z.B. Freud, Weitere Bemerkungen, S. 382. In einer französischen Publikation ist entsprechend mehrfach vom »attentat« die Rede. Ders.: L’hérédité et l’étiologie des névroses (1896), in: Gesammelte Werke, Bd. 1, S. 407–422, hier S. 417f.
[xii] Freud, Sigmund: Über Deckerinnerungen (1899), in: Gesammelte Werke, Bd. 1, 531–554, hier S. 540f.
[xiii] Udo Hock nennt solche durch ihre Deutlichkeit hervorgehobenen Elemente, welche mehrere Bedeutungen (hier: Bedeutungen aus unterschiedlichen Zeitkontexten) in sich verdichten, »Signfikanzzentren«. Vgl. Hock, Udo: Die Zeit des Erinnerns, in: Psyche – Z Psychoanal, 2003, 57. Jg., Heft 9–10, S. 812–840, hier S. 821f.
[xiv] Bernfeld, Siegfried: Ein unbekanntes autobiographisches Fragment von Freud, in Bernfeld, Siegfried; Cassirer Bernfeld, Susanne, Bausteine der Freud-Biographik, Frankfurt/M. 1891, Suhrkamp, S. 93–111
[xv] Vgl. u.a. Anzieu, Didier: Freuds Selbstanalyse und die Entdeckung der Psychoanalyse, übers. von E. Moldenhauer, München 1990, Verl. Internat. Psychoanalyse, S. 363–371; Krüll, Marianne: Freud und sein Vater – Die Entstehung der Psychoanalyse und Freuds ungelöste Vaterbindung, Frankfurt/M. 1882, Fischer, S. 195–199; Grinstein: Sigmund Freud’s Dreams, Kap. 2; Swales, Peter J.: Freud, Martha Bernays, & the Language of Flowers, 1983, im Eigendruck; Eiferman, Rivka R.: The screen and behind it – Manifest and latent themes in Freud »Über Deckerinnerungen«, in: Gail S. Reed; Howard B. Levine (Hg.), On Freud’s »Screen Memories«, London 2015, Karnac, S. 80–103
[xvi] Freud, Sigmund: Brief vom 3.10.1897, in: Briefe an Wilhelm Fliess 1887–1904, hg. v. J. M. Masson, Bearb. der dt. Fassung von M. Schröter, Frankfurt/M. 1986, S. Fischer, S. 289. Siehe auch die Andeutung im Brief an die besagte Nichte, Pauline Hartwig, vom 23.9.1937. »Es ist wirklich schön von Dir, dass Du mir immer noch von Zeit zu Zeit schreibst, obwohl ich Dir gewiss kein zärtlicher Onkel gewesen bin. […] und du warst zwei Jahre alt, als ich dich zuerst und zuletzt sah. Damals trug ich dich allerdings gern auf den Armen herum, was dir nicht immer recht war.« Online unter: https://www.loc.gov/resource/mss39990.01204/?sp=5&r=-0.885,0.043,2.769,1.147,0
[xvii] Vgl. die Spekulationen zu dieser Verschiebung auf die Zahl 17 von Swales, Freud, Martha Bernays, & the Language of Flowers, S. 11
[xviii] Einen eigentümlichen und unergiebigen Disput zu diesem Thema lieferten sich Peter Rudnytsky, der sich sicher ist, dass Freud onanierte, und Élisabeth Roudinesco, die Freud gegen diese von ihr als Anschuldigung erlebte Unterstellung scheinbar verteidigen möchte: Vgl. Rudnytsky, Peter: Review of Freud in his Time and ours by Élisabeth Roudinesco, in: J. Hist. Behav. Sci., 2018, 54. Jg., Heft 3, S. 219–223; Roudinesco, Élisabeth: Response to Peter L. Rudnytsky, in: J. Hist. Behav. Sci., 2018, 54. Jg., Heft 3, S. 223–225; Rudnytsky, Peter: Rejoinder to Élisabeth Roudinesco, in: J. Hist. Behav. Sci., 54. Jg., Heft 3, S. 225
[xix] Es ist eine noch nicht genug gewürdigte Eigentümlichkeit von Freuds autobiographischen Rekonstruktionen, dass er zur Wahrung seiner Anonymität dieselben Zensurmechanismen anwendet, die er als die Mechanismen des Unbewussten beschrieben hat.
[xx] Anzieu: Freuds Selbstanalyse, S. 295f.
[xxi] Vgl. Ebd., S. 365; Grinstein: Sigmund Freud’s Dreams, S. 66; Krüll: Freud und sein Vater, S. 197–199; Swales: Freud, Martha Bernays, & the Language of Flowers, S. 18; Eiferman: The screen and behind it, S. 86ff. Auf die Details der teilweise gewagten Rekonstruktionen/Deutungen, die sich mal stärker auf Masturbationsthemen in der Kindheit (ödipale Fantasien, Kastrationsdrohung…) beziehen, mal auf die Jugendzeit (Schwärmerei für Gisela) oder das Erwachsenenleben (vorehelicher Wartestand) fokussieren, gehe ich hier nicht ein.
[xxii] Siehe zu dieser Differenzierung: Freud, Sigmund: Zur Psychopathologie des Alltagslebens (Über Vergessen, Versprechen, Vergreifen, Aberglaube und Irrtum), in: Gesammelte Werke, Bd. 4, S. 52
[xxiii] Vgl. Freuds Äußerung in den Protokollen der Mittwochsgesellschaft während einer Diskussion über Hexenprozesse: »Das ganze Bild dieses Hexenprozeß-Verfahrens erinnert an die Kinderspiele auf einer Wiese, die ja auch oft genug in sexuelle Orgien ausarten.« Nunberg, Herman; Federn, Ernst (Hg.), Protokolle der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung, Bd. 2: 1908–1910, Frankfurt/M. 1977, S. Fischer, S. 113 Der Hinweis auf diese Stelle kommt von Swales: Freud, Martha Bernays, & the Language of Flowers, S. 52
[xxiv] Freud, Sigmund: Brief vom 3.10.1897, S. 290
[xxv] Hock bemängelt in diesem Zusammenhang, dass in die freudbiographische Rezeption des Deckerinnerungsaufsatzes eine Fixierung auf die Kindheitsszenen (man könnte sagen: als undialektische Antithese zu Freuds Betonung des Gewichts der späteren Szenen) Einzug gehalten habe – was insbesondere bei Krüll einen gewissen Konkretismus in Bezug auf Freuds mutmaßliche Kindheitserlebnisse zur Folge habe. Er plädiert dafür, ein Zusammenwirken der infantilen und der erwachsenen Szene (welche letztere eine Reinterpretation der infantilen impliziert) im Sinne der Nachträglichkeit anzunehmen. Vgl. Hock: Die Zeit des Erinnerns, S. 824f.
[xxvi] Von seinen zahlreichen Publikationen zum Thema sei ein Buch herausgehoben, das fast gänzlich der Analyse einer Masturbationsfantasie gewidmet ist: Stoller, Robert J.: Sexual excitement – Dynamics of erotic life, London 1979, Karnac
[xxvii] Reiche, Reimut: Die Rekonstruktion der zentralen Onaniephantasie in der Analyse eines jungen Homosexuellen, in: Dannecker, Martin; Reiche, Reimut (Hg.): Sexualität und Gesellschaft – Festschrift für Volkmar Sigusch, Frankfurt/M. 2000, Campus, S. 360–382
[xxviii] Kahr, Brett: Sex im Kopf – Alles über unsere geheimsten Fantasien, Berlin 2008, Ullstein
[xxix] Vgl. Stoller, Sexual excitement, Kap. 10
[xxx] Freud, Sigmund: Die Traumdeutung (1900), in: Gesammelte Werke, Bd. 2/3, S. 218f.
[xxxi] So das Original für »lasterhafte […] Hunde« im oben angeführten Zola-Zitat. Siehe hierzu auch die Brücke, die Philippe Haensler zu den »femelles des animaux« bei Jean-Jacques Rousseau schlägt: Haensler, Philippe P.: An Namen (Platon, Rousseau, Zola, Freud etc.), in: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse, Heft 99, online verfügbarer Text unter: https://www.risszeitschriftfuerpsychoanalyse.org
[xxxii] »Auf der Unterseite sind diese [Blätter des Huflattichs] filzig behaart, was der Pflanze auch den weniger schmeichelhaften Namen Wanderers Klopapier einbrachte.« Online unter: https://www.hoehenrausch.de/bergblumen/huflattich/
[xxxiii] »[D]as Hufeisen wiederholt den Umriß der weiblichen Geschlechtsöffnung« und gilt Freud deshalb als Symbol derselben. Vgl. Freud, Vorlesungen, S. 167. Durch die Verbindung von Huf(eisen) und Latt(e) kann man den Huflattich auch als Symbol der genitalen Vereinigung begreifen, was wiederum zu Freuds oben skizziertem sexuellen »Wartestand« passen würde.
[xxxiv] Freud, Sigmund: Hemmung, Symptom und Angst (1926), in: Gesammelte Werke, Bd. 14, S. 111–205, hier S. 116
[xxxv] Ob es eine vor- bzw. nicht-objektale Form des Autoerotismus gibt, in der also der eigene Körper nicht das Objekt vertritt, ist umstritten. Ich tendiere hier zu der Annahme, dass der Sexualtrieb von Beginn an relational ist, der eigene Körper und der autoerotische Rückzug zu ihm also (zumindest latent) auf den Anderen verweisen. Eine ähnliche Position vertritt: Leader, Darian: Jouissance – Sexuality, Suffering and Satisfaction, Cambridge, UK 2021, Polity, S. 15–27
[xxxvi] Chaboudez, Gisèle: L’auto-érotisme de la jouissance phallique, in: Essaim, 2002, 10. Jg., Heft 2, S. 35–48, hier S. 37
[xxxvii] Einen bemerkenswerten Versuch, psychopathologische Folgewirkungen unterschiedlicher elterlicher Reaktionen auf die kindliche Onanie zu beschreiben, unternimmt: Binswanger, Ralf: Kindliche Masturbation – Ein genetischer Gesichtspunkt, insbesondere bei Anorexia und Bulimia nervosa, in: Psyche – Z Psychoanal, 1996, 50. Jg., Heft 7, S. 644–670
[xxxviii] Vgl. Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max: Zur Genese der Dummheit, in: dies., Dialektik der Aufklärung – Philosophische Fragmente, Frankfurt/M. 2011 (20. Aufl.), S. Fischer, S. 274f.
[xxxix] »The aim of Candy Crush is not to teach the users anything, but to capture the totality of their cognitive capacities during a given amount of time and to appropriate their libidinal resources by making the screen into a surrogate masturbatory surface. In Candy Crush, the players never win anything: when they finish one level, it’s the screen that has the orgasm.« Preciado, Paul: An Apartment on Uranus. Chronicles of the Crossing, South Pasadena, CA, 2019, Semiotext(e), S. 54
[xl] Vgl. zum »Ich-Orgasmus«: Winnicott: Über die Fähigkeit, S. 350f.
[xli] Laplanche, Jean: Sexualität und Bindung in der Metapsychologie, in: ders.: Sexual, Gießen 2017, Psychosozial, S. 33–52, hier S. 44
Philipp P. Haensler: An Namen (Platon, Rousseau, Zola, Freud etc.)
»[…] wenn man z. B. von einem sonst schamhaften Mädchen verlangt, sich zu entblößen, oder von einem ehrlichen Mann, sich einen wertvollen Gegenstand durch Diebstahl anzueignen, kann man einen Widerstand […] bemerken […].«
– S. Freud, Psychische Behandlung (Seelenbehandlung)
Im Jahr 1938 verfasst Sigmund Freud eine Notiz, an deren Anfang ein Datum, in direktem Anschluss eine -nahme zu lesen ist: »3.VIII. Letzter Grund aller intellektuellen und Arbeitshemmungen scheint« – eine Lektüre, die nicht an diesem Punkt des Texts schon aufgeben, vom Text aufblicken (und also schlicht -hören) will, hat keine andere Wahl, als Freuds Ansicht für den Moment für die eigene zu nehmen, einen Augenblick zu teilen –
»die Hemmung der kindlichen Onanie zu sein. Aber vielleicht geht es tiefer, nicht deren Hemmung durch äussere Einflüsse, sondern deren unbefriedigende Natur an sich. Es fehlt immer etwas zur vollen Entlastung und Befriedigung – en attendant toujours quelque chose qui ne venait point – und dieses fehlende Stück, die Reaktion des Orgasmus, äussert sich in Aequivalenten auf anderen Gebieten, Absencen, Ausbrüchen von Lachen, Weinen (Xy), und vielleicht anderem. – Die infantile Sexualität hat hier wieder einmal ein Vorbild fixiert.«[i]
Anderen vielleicht anderes, scheint mir an diesem Gedankengang Freuds insbesondere bemerkenswert, dass er nicht aus einem Guss ist. Die intellektuelle Arbeit sieht sich, anders und genauer, hier zweifach gehemmt: einerseits durch einen äußeren Einfluss bzw. fremdsprachigen -schub – »en attendant toujours quelque chose qui ne venait point« –, der – eine Übersetzung der »fehl[enden]« »vollen Entlastung und Befriedigung«, ihr Äquivalent auf anderem, französischem Gebiet? – das Ende des Satzes hinauszögert, auf den abschließenden Punkt länger, als vielleicht nötig wäre, warten lässt; gehemmt andererseits oder ins Straucheln gebracht durch eine Klammer, die nichts (Wörtliches) enthält, dem Nachdenken Freuds gerade so, wortwörtlich nichts sagend, aber ein fehlendes Stück hin-, ihm ebendas Schlagloch zufügt, das sie (eben die Klammer und eben behelfsmäßig: in die Bresche, die sie selbst ist, springend; ein aus anderem Holz geschnitztes, aus einem Splitter antiken, altgriechischen Holzes, ξύλον [xylon], verfertigtes Brettchen darüberlegend) ausgleicht. Kurz: Freuds Sätze, die den »intellektuellen und Arbeitshemmungen« auf den »[l]etzte[n] Grund« und dabei noch »tiefer« »geh[en]« wollen, laden zur Suche ein. Nach Namen vor allem anderen: dem der Urheber*in des französischsprachigen Zitats (gesetzt, es sei ein solches) und dem wahren – und es muss ein Name sein, zumindest ein Wort und darf nicht mehr sein in den Augen der (Numero)Philolog*in, die in Freuds am 3.8. ’38 verfassten Sätzen 83 Wörter zählen will – dessen, was sich unter »Xy« verbirgt. Die wissenschaftliche Archäologie – die nie ohne Grabungsplan arbeitet, einen jeden Fund, Bruchstücke des Griffs eines Messers etwa, exakt (auf x- und y-Achse) verzeichnet, ehe sie die nächste Schicht abträgt – hat Freud und seiner Lektüre wieder einmal ein Vorbild fixiert.
Letzter Grund – ich gehe der Reihe nach – von besagtem französischsprachigen Einschub scheint Émile Zolas Germinal von 1885 zu sein, jene Stelle des Romans, genauer, da eine der Figuren, der heranwachsende Jeanlin, eine andere, die jüngere Lydie, zu seiner »petite femme« (zu »sein[em] Frauchen«, wie es in der Übersetzung durch Armin Schwarz heißen wird) macht[ii]: »ils« – Jeanlin und Lydie, die Teilnehmer des (Macht)Spiels, das männliche Pronomen –
»essayaient ensemble […] l’amour qu’ils entendaient et qu’ils voyaient chez eux, derrière les cloisons, par les fentes des portes. Ils savaient tout, mais ils ne pouvaient guère, trop jeunes, tâtonnant, jouant, pendant des heures, à des jeux de petits chiens vicieux. Lui appelait ça ›faire papa et maman‹; et, quand il l’emmenait, elle galopait, elle se laissait prendre avec le tremblement délicieux de l’instinct, souvent fâchée, mais cédant toujours dans l’attente de quelque chose qui ne venait point.«[iii]
»Sie versuchten […] die Liebe, die sie zu Hause hinter den dünnen Wänden und zwischen den Türritzen sahen und hörten. Sie wußten alles, aber sie konnten noch nicht, denn sie waren zu jung und tasteten daher nur und spielten stundenlang wie lasterhafte junge Hunde. Er nannte dies ›Vater und Mutter spielen‹, und wenn er sie hinwegführte, lief sie mit ihm, und ließ ihn gewähren, mit dem köstlichen Schauer des Instinkts, oft verletzt, aber immer wieder nachgebend, in Erwartung irgendeiner Sache, die nicht kam.«[iv]
An dem Punkt eine Zwischenbemerkung: Insofern es diese Szene ist, die Freuds Notiz in Anspruch nimmt, geht es, das Zitieren, vielleicht tiefer. So ruft die Passage, die im fünften Kapitel des zweiten Teils von Germinal zu finden ist, nämlich – spielerisch? ihnen Folge leistend? kritisch davon sich abgrenzend? – Überlegungen auf den Plan, die Jean-Jacques Rousseau im fünften Buch seines Bildungsromans Émile – Zola bekannt? – über den Unterschied der Geschlechter und, insbesondere, über die der Frau unterstellt eigentümliche Schamhaftigkeit, »honte«, anstellt. Letzterer Grund scheint Rousseaus Text nicht im Biologischen ausfindig machen zu wollen:
»Si les femelles des animaux [Hündinnen etwa, PPH] n’ont pas la même honte, que s’ensuit-il? Ont-elles [gemeint: die femelles], comme les femmes, les désirs illimités auxquels cette honte sert de frein? Le désir ne vient pour elles [gemeint: die femelles, immer noch, doch das weibliche Pronomen meint je länger je mehr noch anderes] qu’avec le besoin; le besoin satisfait, le désir cesse; […] l’instinct les pousse et l’instinct les arrête. Où sera le supplément de cet instinct négatif dans les femmes, quand vous leur aurez ôté la pudeur? Attendre qu’elles ne se soucient plus des hommes, c’est attendre qu’ils ne soient plus bons à rien.«[v]
»Wenn die Tierweibchen nicht die gleiche Scham empfinden, was folgt daraus? Haben sie die gleichen unbegrenzten Begierden wie die Frauen, denen die Scham als Zügel dient? Der Trieb entsteht bei ihnen nur aus dem Bedürfnis. Ist das Bedürfnis befriedigt, hört der Trieb auf. […] Der Instinkt treibt sie und der Instinkt hält sie zurück. Womit sollten die Frauen diesen negativen Instinkt ersetzen, wenn man ihnen das Schamgefühl nähme? Warten, bis sie sich nichts mehr aus Männern machen, hieße warten, bis sie [diese Zweideutigkeit ist dem Rousseau’schen Original fremd, PPH] zu nichts mehr nütze sind.«[vi]
Und in gleichem Maße wie diese Sätze aus dem Émile – und die auf sie folgenden monströsen, die sexuelle Gewalt an Frauen schönreden, davon reden, dass von sexueller ›Gewalt‹ an einer Frau (die den »homme«, »[s]oit donc qu[’elle] partage ou non ses désirs et veuille ou non les satisfaire«, »repousse et se défend toujours«[vii] [»ob nun die Frau das Verlangen des Mannes teilt oder nicht und es befriedigen will oder nicht, sie stößt ihn immer zurück und verteidigt sich«])[viii] durch einen Mann (der also nie wissen kann, »si c’est la faiblesse qui cède à la force, ou si c’est la volonté qui se rend«[ix] [»ob die Schwäche der Kraft gewichen ist oder ob sich der Wille ergeben hat«])[x] mit Gewissheit gar nie gesprochen werden könne (»la ruse ordinaire de la femme est de laisser toujours ce doute entre elle et lui«[xi] [»die gewöhnliche List der Frauen ist, diesen Zweifel immer zwischen sich und ihm bestehen zu lassen«],[xii] ist, ein ›Nein‹ so auszudrücken, dass sich der »homme«, in Anlehnung an Freud gesprochen, stets »die Freiheit [nehmen kann], bei der Deutung von der Verneinung abzusehen«)[xiii] – jenen in Germinal ein Vorbild, zumindest einen Bezugspunkt fixiert haben, hat Zolas Namenwahl sein Vorbild im -namen Rousseaus.[xiv] Ihm schneidet sie, wie zur Strafe, etwas ab, verbindet ihn und lässt ihn, statt Jean-Jacques nun -lin, das fehlende Stück in Leinen gehüllt und als Mahnmal an die unsägliche Operation dem Verletzten in die Hände gelegt, als kindliches Hänschen zurück: Was es, im Umgang mit Lydie, nicht lernt, lernt Jean-Jacques, in der philosophischen Behandlung der »femmes« überhaupt, nimmermehr.
Zurück zu Freud – zu dessen Bezugnahme auf Zola zu bemerken ist, dass sie nicht nur keine Namen nennt, weder den des Autors noch die seiner Kinder, sondern auch entscheidendes Inhaltliches ungesagt lässt: So unterschlägt Freud denn gänzlich den Übergriff an der Szene, übergeht stillschweigend jenen Fächer von Gefühlen (Abneigung, Widerstand, Zorn und vielleicht andere) Lydies, der bei Zola – doch da eben nicht ohne Spuren zu hinterlassen, geräuschvoll sozusagen – zugeklappt und in einem Fach, einer sprachlichen Tasche, »fachée«, verstaut wird.[xv] (Die missbräuchliche Dimension der Szene tritt im Gesamtkontext von Germinal übrigens noch deutlicher hervor, ist nämlich Teil einer ganzen Reihe von Erfahrungen Lydies von äußerer Gewalt bzw. äußerem Zwang, die Zola selbst – in seinen persönlichen stichwortartigen Notizen zum Roman – die Figur zusammenfassen-charakterisieren lässt wie folgt: »Une révoltée, par les coups et le manque de tendresse. Haine au cœur contre ceux qui la font souffrir. Souffre douleur un peu tragique. Poussée au vol« – Zola meint hier wohl [denn dieser spielt in der Romanhandlung eine zentrale Rolle] den Diebstahl im engeren Sinne, das Wort ›vol‹ meint, wie der deutsche ›Raub‹, aber auch noch anderes, ist im Französischen nur durch einen Buchstaben, ›i‹, davon getrennt – »par Jenlain [sic], et mentant ensuite et devenant mauvaise.«[xvi] [»Eine Aufständische, durch Schläge und Mangel an Zärtlichkeit. Hass im Herzen gegen jene, die sie leiden machen. Leidet einen etwas tragischen Schmerz. Zum Diebstahl gedrängt durch Jenlain, so dann zur Lügnerin und schlecht geworden.«] Das, ihr Gewaltsames, wäre denn also die tiefere Pointe der Szene in Germinal.) Und tiefer, als Freuds Text zu hören bereit scheint, geht denn auch Zolas Wendung »attente de quelque chose qui ne venait point«, die – tatsächlich hat das »›faire papa et maman‹« in Germinal einen Zeugen, wird beobachtet von einem dritten Kind, das Bébert heißt – nicht zuletzt, ja, vor allem anderen auf Hilfe hinauswill. Zolas Text, dem und dessen Pointen Freud also Gewalt antut,[xvii] muss es sich gefallen lassen. Denn er ist Zolas Text. Denn was ist ein ›Text‹, wenn nicht, mit Platon – der Reden mit »Kinderchen«[xviii] (und, gleich wie Freud, der an einer anderen Stelle, die der Schreibhemmung gewidmet ist, dem »Schreiben, das darin besteht, aus einem Rohr Flüssigkeit auf ein Stück weißes Papier fließen zu lassen«,[xix] die »symbolische Bedeutung des Koitus«[xx] abliest, das Schreiben, das Wörter »mit Tinte sie durch das Rohr aussäend [σπείρων / speiron]«[xxi] in die Welt setzt, mit dem Zeugungsakt) vergleicht – gesprochen, eine »Rede«, die »geschrieben« ist und so denn »überall«, »gleichermaßen unter denen umher[schweift], die sie verstehen, und unter denen, für die sie sich nicht gehört«?[xxii] Sie »bedarf […] immer ihres Vaters Hilfe; denn selbst ist sie weder imstande sich zu schützen noch sich zu helfen.«[xxiii]
Freud – ich komme zum zweiten Punkt – ist auch ein Vater. Schreibender, dessen Sprösslinge sich nicht zu wehren vermögen. Wesentlich nicht, wenn es nach Platon geht, und insbesondere nicht, im Falle Freuds, gegenüber den Schneidwerkzeugen der Zensor*in: Anstelle des »Xy« der in den Gesammelten Werken abgedruckten Fassung ist im Originalmanuskript von Freuds Notiz etwas anderes, nämlich ein Name zu lesen.[xxiv] (Hat Freud, seine Hand solchen Eingriff ins Gewebe antizipiert? Die weitausladenden Klammerstriche von Freuds Manuskript enthalten nicht nur besagten [zensierten] Namen, sondern schneiden, da sie um eine saubere Trennung der Zeilen sich nicht scheren, Klingen gleich aus der darunterliegenden Zeile, wo »infantile Sexualität« steht, »[]tile Sex[]« heraus; nehmen, anders, in sich etwas auf, das an ›Textiles‹ erinnert in der Verkleidung eines Anagramms.) Dieser Name ist »Anna«.[xxv] Dieser Name lässt denken: an eine Analysandin, an Verwandte Freuds und vielleicht an Andere. Die Analysandin, die »Anna« mitmeint, heißt eigentlich Bertha Pappenheim und begegnet – durch Schritte zurück im Alphabet (von B zu A, P zu O) in ›Anna O.‹, Pseudonym und -anagramm von ›Onanie‹, verwandelt – in Freuds gemeinsam mit Josef Breuer erarbeiteten Studien über Hysterie von 1895, wo – wie dann später in Freuds Notiz von 1938 mit ihren »Aequivalenten auf anderen Gebieten, Absencen, Ausbrüchen von Lachen, Weinen (Xy)«, in welcher Anna O. namentlich an- bzw. eben (zensiert, noch einmal) abwesend ist – »Absencen« – das Wort begegnet in dem Anna O. gewidmeten Teil der Studien über zwanzigmal – eine wichtige Rolle spielen. (»Es war«, um hier nur eine zu nennen, »immer vorgekommen, dass [die] Patientin nicht hörte, wenn man sie ansprach« – auch dann nicht, wenn sie »allein, direct angesprochen« wurde, was gemäß den Autoren seinen letzten Grund in der Kindheit, seinen »Ursprung« in einer Situation hat, da »der Vater vergebens sie um Wein angesprochen« hatte.[xxvi] Wie Freud rückblickend schreiben wird, sind die von Breuer an Pappenheim gewonnen Erkenntnisse »noch heute die Grundlage der psychoanalytischen Therapie«,[xxvii] Grundlage einer Form von Therapie, die man also nicht zu unrecht eine Psychoannalyse hieße.) Die Verwandten Freuds, die Anna heißen, sind seine zwei Jahre jüngere Schwester und deren Nichte, Freuds jüngstes Kind, das 1895 – in dem Jahr also, da Sigmund und Josef Bertha Anna tauften – geboren worden war. Hatte Letztere, Anna Freud, die Tochter, die die Hauptherausgeberin von Freuds Nachgelassenen Schriften und so unseren Sätzen von 1938 sein wird, ihren Anteil daran, dass der geteilte Name gestrichen wurde, aber eben doch nicht ganz – ein neuer Name, ein Pseudonym statt des kryptischen »Xy« (das also mit dem wütenden Klopfen jenes verräterischen Herzens unter dem Dielenboden Edgar Allan Poes, wie es wohl auch bei jener stillen »[h]aine au cœur« Lydies Zolas mitzuberücksichtigen wäre, zu vergleichen wäre, gleichsam als ein Pochen zu hören wäre) wäre, wäre das die Intention gewesen, eine sicherere falsche Fährte gewesen – zum Schweigen gebracht wurde? Worauf die versäumte Übernahme von »Anna« in die gedruckte Fassung zurückgeht, darüber lässt sich nur spekulieren. Aber was auch immer der letzte Grund sein mag: Der Einschnitt in Freuds Notiz geht tiefer, geht nicht »Anna« allein, sondern alle an. In einem Wort: Der Name »Anna« – der zurückgeht auf das hebräische חנן [ẖnn], also, als Wort statt Name genommen, davon spricht, jemandem gegenüber ›gnädig zu sein‹ – ist Metonymie. Er steht, da er wegfällt, ein für den einer jeden Leser*in Freuds, die seinen Ansichten nicht mit Wohlwollen begegnet, mit seinen Texten – sei es aus begründeten theoretischen Zweifeln, sei es aus jenem persönlichen Widerstand, der gemäß Freud nur Ausdruck einer narzisstischen Kränkung (und, unwissentlich bzw. -gewollt, gerade so Beweis für die Stichhaltigkeit der Psychoanalyse) ist[xxviii] – nichts zu schaffen haben will. In einem anderen Wort: Die Absenz von »Anna« – deren hebräische Wurzel im Französischen ein Antonym hat in jenem von Freud übergangenen Wort »fachée« – lässt an Rache denken. Denn »Anna« (pro toto, Initiantin einer Sammelklage gleichsam) widersetzt sich nicht nur schweigend (ihrer Vereinnahmung durch die Psychoanalyse, jenem »Diebstahl« seines »wertvollen« Namens, der vom »Mädchen verlangt, sich zu entblößen« vor der ganzen lesenden Welt),[xxix] sondern reagiert (»[w]ir verstehen hier« mit Breuer und Freud »unter Reaction eine ganze Reihe willkürlicher und unwillkürlicher Reflexe […]: vom Weinen bis zum Racheact«)[xxx] bzw. schlägt zurück, beraubt nämlich, da sie ihren Konsens entzieht, Freuds Betrachtungen, wenn nicht jedweden Sinns, so doch deren einzigen und nun also ganz fehlenden Stücks Anschaulichkeit, ihres letzten Grunds im Empirischen. Erfahrungs- da namenlos, augenfällig gebrandmarkt durch ein »Xy« für seine schamlose Aneignung des fremden Eigentums bzw. -namens wie ein mittelalterlicher Lang- durch seine (gewaltsam verkürzten) Finger, geht Freuds Nachdenken über den »[l]etzte[n] Grund aller intellektuellen und Arbeitshemmungen« so denn ohne Hand und Fuß, verstohlen und (über sich selbst, eine eigene Klammer) stolpernd durch die Straßen der Wissensgeschichte, in ihre Annalen ein als das, womit es angefangen hat und nun bis zum Ende und im Ganzen bleiben muss: eine unter anderen möglichen Annahmen. (Diesen Namen, ›Annahmen‹, hat die Geschichte ihnen gegeben und andere vorenthalten, weil ihre Natur es an sich hat, dass immer etwas zur befriedigenden Erklärung nach dem Vorbild der tradierten Wissenschaften fehlt.)
[i] Freud, Sigmund: Ergebnisse, Ideen, Probleme, in: ders.: Gesammelte Werke 17, Hg.: Freud, Anna et al., London 1941, Imago Publishing Co., S. 149–152, hier: S. 152
[ii] Auf diese intertextuelle Dimension von Freuds Notiz bin ich aufmerksam geworden durch – und folge bei ihrer Lektüre wesentlich und dankbar – Aaron Lahl.
[iii] Zola, Émile: Germinal, in: ders.: Œuvres complètes 13, Hg.: Becker, Colette, Paris 2017, Classique Garnier, S. 217
[iv] Zola, Émile: Germinal, Übers.: Schwarz, A., Stuttgart 1974, Reclam, S. 146f.
[v] Rousseau, Jean-Jacques: Émile ou de l’éducation (Suite), in: ders.: Œuvres complètes 8, Hg.: Trousson, Raymond; Eigeldinger, Frédéric S., Genf 2012, Éditions Slatkine, S. 1–1023, hier: S. 827
[vi] Rousseau, Jean-Jacques: Emil oder Über die Erziehung, Übers.: Schmidts, L., Paderborn 1971, Ferdinand Schöningh, S. 387
[vii] Rousseau, Émile [Fr.], S. 827
[viii] Rousseau, Emil [Dt.], S. 387f.
[ix] Rousseau, Émile [Fr.], S. 828
[x] Rousseau, Emil [Dt.], S. 388
[xi] Rousseau, Émile [Fr.], S. 828
[xii] Rousseau, Emil [Dt.], S. 388
[xiii] Freud, Sigmund: Die Verneinung, in: ders.: Studienausgabe 3, Hg.: Mitscherlich, Alexander et al., Frankfurt am Main 1972, S. Fischer, S. 371–377, hier: S. 373
[xiv] Zu Zolas (reflektierter, revidierter) Namenwahl vgl. Marel, Henri: Onomastique et création dans »Germinal«, in: Revue d’Histoire littéraire de la France, 1985, 85. Jg., Heft 3, S. 401–411, hier: S. 404: »Zola écrira le prénom ›Jenlain‹ de cette façon dans L’Ébauche et les Personnages. Dans les Plans, il hésitera entre Jenlain et Jeanlin pour aboutir dans le roman [gemeint: Germinal] à Jeanlin. Le nom semble lui avoir été inspiré par le village de Jenlain, proche de Valenciennes, dont il pouvait voir le nom dans Valenciennes, car on y fabriquait une excellente bière (Dans Mes Notes sur Anzin, notre auteur écrira: ›Au petit Jenlain‹). Tout ceci ne peut être pure coïncidence. Si on accepte ma version, on voit apparaître l’art du romancier: le déplacement d’une lettre, le a, donne vraisemblance au prénom pour tout lecteur français« – insbesondere eben, wenn man auch meine Version akzeptiert, für Leser*innen Jean-Jacques Rousseaus.
[xv] Was ich hier (und später) im Wort »fachée« höre, würde ich nicht hören ohne die (einem Aphorismus Friedrich Nietzsches, Elemente der Rache, im zweiten Teil von Menschliches, Allzumenschliches gewidmeten) Seiten in: Schestag, Thomas: Mantisrelikte, Basel 1999, Urs Engeler, S. 7–16.
[xvi] Zola, Germinal [Fr.], S. 217, Anm. 59
[xvii] Gewalt übrigens auch wortwörtlich: So erinnert Freud (dessen am fremden Textkörper also nur sehr bedingt interessierte Lektüre ›masturbatorisch‹ genannt werden könnte) »dans l’attente« als »en attendant« (worin seine eigene »Onanie« anklingt). Vgl. dazu auch den Beitrag von Aaron Lahl, der auf die »Nähe des ›attente‹ zum ›Attentat‹« hinweist und darauf, dass Freud »im Rahmen seiner Verführungstheorie Übergriffe durch Erwachsene, aber auch durch ältere Kinder« als »Attentate« bezeichnet. Vgl. Lahl, Aaron: En attendant toujours…, in: RISS – Zeitschrift für Psychoanalyse, 2023, Heft 99, S. 40–44, hier S. 43
[xviii] Platon: Phaidros, in: ders.: Werke in acht Bänden 5, Hg.: Eigler, Gunther, Übers.: Schleiermacher, F.; Kurz, D., Darmstadt 1983, Wissenschaftliche Buchgesellschaft, S. 1–193, hier: S. 127 [= 261a]
[xix] Freud, Sigmund: Hemmung, Symptom und Angst, in: ders.: Studienausgabe 6, Hg.: Mitscherlich, Alexander et al., Frankfurt am Main 2006, S. Fischer, S. 227–308, hier: S. 235
[xx] Ebd.
[xxi] Platon, Phaidros, S. 183 [= 276c]
[xxii] Ebd., S. 181 [= 275e]
[xxiii] Ebd.
[xxiv] Die handschriftliche Fassung von Freuds Notiz von 1938 ist online einsehbar unter: https://www.loc.gov/resource/mss39990.OV1313/?sp=3&st=image [05.03.2023]. Für diesen – für die vorliegenden Überlegungen entscheidenden – Hinweis bedanke ich mich herzlich bei Aaron Lahl.
[xxv] Ebd.
[xxvi] Breuer, Josef; Freud, Sigmund: Studien über Hysterie, Leipzig, Wien, 1985, Franz Deuticke, S. 28
[xxvii] Freud, Sigmund: Vorlesungen zur Einführung in die Psychoanalyse (1916–17 [1915–17]), in: ders.: Studienausgabe 1, Hg.: Mitscherlich, Alexander et al., Frankfurt am Main 2007, S. Fischer, S. 33–445, hier: S. 279
[xxviii] Vgl. Freud, Sigmund: Eine Schwierigkeit der Psychoanalyse, in: ders.: Gesammelte Werke 12, Hg.: Freud, Anna et al., London 1947, Imago Publishing Co., S. 3–12
[xxix] Freud, Sigmund: Psychische Behandlung (Seelenbehandlung), in: ders.: Studienausgabe: Ergänzungsband, Hg.: Mitscherlich, Alexander et al., Frankfurt am Main 1982, S. Fischer, S. 13–34, hier S. 34
[xxx] Breuer; Freud, Studien, S. 5
Rezensionen
Hannes Böhringer: Lücken im Verhau, Berlin 2023, Matthes & Seitz, rezensiert von Marco Baschera
Ist es wirklich, wie es ist?
Hannes Böhringer lehrte viele Jahre als Philosoph an verschiedenen deutschen Universitäten im Fachbereich Kunstphilosophie. Sein letztes Buch »Leben im Dativ« erschien 2021 bei Matthes & Seitz, wo er im März dieses Jahres auch sein neustes Werk »Lücken im Verhau« – eine Sammlung verschiedener Essays – publiziert hat. Der Titel lässt aufhorchen. Ein Verhau, in der Nähe von »verhauen, verprügeln«, bezeichnet ein sperriges Dickicht, das einem einerseits den Weg versperrt, andererseits einen Durchblick auf das dahinter Liegende oder, wie es zu Beginn von »Lücken im Verhau« heißt, »auf das Durcheinander der geordneten Welt« (S. 4), gewährt. Wie aber kann ein Durcheinander geordnet sein? Einige der Essays sind Sokrates gewidmet, der bekanntlich durch die Gassen und auf dem Marktplatz von Athen umhergelaufen sein soll, um sich dem Dickicht der damals gängigen Meinungen zu stellen. In der Darstellung Platons lässt sich der ewig Suchende, fern aller philosophischen Dogmatik, auf Streitgespräche ein, in deren Verlauf er herauszufinden trachtet, welche Meinung die richtige ist im Durcheinander der Behauptungen. Dabei bedient er sich der Kunst der Widerlegung, bei der das »bewusste Nichtwissen stärker ist als das Bescheidwissen« (S. 19).
In den Lücken, die die sokratische Mäeutik im Dickicht der gängigen Behauptungen öffnet, scheint auch ein Glück auf im Umgang mit den letzten Fragen nach der Wahrheit, dem Guten und der Gerechtigkeit. Zu ihr gesellen sich Scherz und Ironie, die unter anderem die Fragen und Antworten des Sokrates auszeichnen. Sie erinnern an die berühmte Pensée Pascals, gemäß welcher derjenige, der wahrhaft philosophiert, über die Philosophie spottet (se moquer de la philosophie). Das Wort »dick« in »Dickicht« ist vom sprachlichen Ursprung her verwandt mit »dicht«. Dickicht ist somit auch »Dichticht«, in welchem das Wort »ich«, sich eigenartig verdoppelnd, ins Stottern gerät. Der philosophische Umgang Böhringers mit dem »Dickicht« der alltäglichen Meinungen ist denn auch der Dichtung verwandt, die in einem gewissen Sinne opak, also nicht unmittelbar verständlich ist. Anders als die begriffliche Rede, die eine möglichst große Klarheit anstrebt, wählt sie einen Umweg, der über die Sprachlichkeit des Denkens führt. Obwohl seine Texte wohl nicht als Dichtung zu verstehen sind, ist Böhringers Denken einer Reflexion auf eine ihm immanente Sprachlichkeit verpflichtet.
Sein sprachliches Denken entfaltet sich nahe den Wörtern. Es vermag, wichtige sachliche und begriffliche Zusammenhänge der Phänomene aufzudecken sowie Durchblicke im Dickicht des Alltags und der alltäglichen Wörter zu verschaffen. Seine knappen, konkreten und lakonisch präzisen Sätze lassen jedoch ein profundes Wissen um philosophische Begriffe, deren Zusammenhänge und historische Entwicklung, erahnen. Bei Böhringer verlieren diese jedoch nie den Kontakt zu den Wörtern, die sie auch sind, sowie zum sprachlichen Grund, dem sie entspringen. Seinen Texten haftet dadurch etwas Leichtfüßiges an. Sie vermögen, aus den Wörtern und ihrem Bezug zu den Sachen ein bewegliches Denken herauszulösen, das nicht Gefahr läuft, dogmatisch zu erstarren. Böhringer gebraucht viele alltägliche Redewendungen, wendet sie aber jeweils spezifisch auf etwas ganz Bestimmtes hin an. So macht es den Eindruck, als würden seine Texte unermüdlich den alltäglichen Satz »es ist, wie es ist« umkreisen und dabei zum kritischen Nachdenken über die unbedachte Tautologie, die ihm zu Grunde liegt, einladen. Dadurch öffnen sie Lücken in den Verhau des Alltags, dessen »Niederungen […] erzählenswert [werden]. Denn dort sind die wahren Schrecken und Wunder verborgen.« (S. 66) Die Philosophie, die nach Aristoteles nach den ersten Gründen und Ursachen sucht, trägt den Hang in sich, sich unabhängig von allem Wissen und ihr fremder Autorität zu entwickeln. Sie richtet sich sozusagen selber auf. Das ist ihr hoher Anspruch, der immer auch Gefahr läuft, in Begriffsgebäuden zu erstarren. Gemäß Böhringer muss sie sich jedoch »im Alltag, am Boden bewähren« (S. 50). Insofern ist ihm Sokrates ein Garant für eine notwendige Unruhe, die jede gewonnene Wahrheit auch wieder in Frage stellt.
Diese Denkrichtung zeigt sich konkret in einem Essay, der den simplen Titel »Der Boden« trägt. In ihm zitiert Böhringer einen Satz von Seneca, gemäß welchem, nahe am soeben zitierten von Aristoteles, Philosophie »ihr Werk (opus) von Grund auf (a solo) errichtet (excitat)« (S. 50) und dabei von keiner anderen Disziplin belehrt werden soll. Das Wort Grund ist zweideutig. Es kann sowohl logische Ursache (causa), wie auch Boden (fundus / solum) bedeuten. Als Boden steht der Grund für ein solides Fundament, jenes fundamentum inconcussum, auf dem auch Descartes seinen Rationalismus aufbaute. Böhringer vermerkt dabei, dass die Philosophen gerne ans Bauen und an Architektur gedacht haben, die jeweils auf einem soliden Boden ruht. Diese räumliche Metaphorik verbindet die Vorstellung eines sicheren Bodens mit jener des logisch-argumentativen Ursprungs (causa). Dadurch soll die Philosophie auf festem Grund und Boden ruhen. In lateinisch excitare steckt der Frequentativ von ciere – etwas bewegen. Es bedeutet etwas erwecken, aus etwas hervorrufen, heraustreiben. Aber wie kann jener solide Grund (solum) Senecas logische Ursache und Boden zugleich sein für die Selbsterweckung eines unerschütterlich gewissen philosophischen Denkens? Welcher inneren Spaltung des festen Bodens soll ein solches Denken entspringen? Basiert diese Vorstellung nicht auch auf einer letztlich unbedachten Tautologie – jene der sprachlichen Homonyme von Grund –, auf welcher die sich selbst benennende Philosophie aufzubauen glaubt? Der Grund droht, zu einem Abgrund und der Boden bodenlos zu werden.
Dies zumindest lehrt, gemäß Böhringer, der »unbeschuhte« und bodenständige Sokrates. »Der Boden ist [für ihn, MB] der Halt der Ironie« (S. 46). Lehren die Stoiker, und mit ihnen Seneca, Härte und Unerschütterlichkeit im Umgang mit dem Unglück, so braucht man dazu starke Schwielen an den Füßen, die sich zu festen Sohlen verhärten können. Das Wort Sohle stammt vom lateinischen solum – Boden – ab. Die beiden Wörter Boden und Sohle scheinen sich zu nahe zu sein. Ihre sprachliche Nähe verweist auf die Doppelbödigkeit des Bodens. Sohlen machen denjenigen, der sie trägt, täuschungsanfällig. Er spürt »den Boden der Wirklichkeit nicht mehr unmittelbar unter« (S. 46) seinen Füßen, die somit ihrer Fähigkeit verlustig gehen, »Fühler nach oben und unten, überallhin« (S. 55) zu sein. Und so bewegt sich in den Augen Böhringers Seneca »in den gefütterten Schuhen einer Dogmatik. […] ihm ist der Boden stoisch versiegelt.« (S. 55)
Innerhalb der Metaphorik des Schuhs wird die Philosophiegeschichte für Böhringer zu einem »Schuhregal«, wo die »getragenen Schuhe« stehen. »Man sieht die Stellen, wo sie gedrückt haben, wo sie gedehnt und ausgebessert, neu besohlt worden sind. […] Die Schuhe sind Lebensformen, in die man hineinschlüpft. Die Philosophie ist nur eine von ihnen.« (S. 50f.) Der Vorteil der Philosophie des Sokrates ist, dass er die Doppelbödigkeit ironisch aufhebt, indem er sie uns »vor Augen führt« (S. 55). Das sokratische Exzitieren ist »die Bescheidenheit des selbstbewussten Nichtwissens« (S. 55). Es hält die Frage, ob es wirklich ist, wie es ist, ständig in der Schwebe.
Éric Bidaud: Psychanalyse et pornographie, Paris 2016, La Musardine, préface de Laurie Laufer, rezensiert von Aaron Lahl
»Sie werden in analytischen Kreisen kein Sprechen über Sexualität mehr hören. Die psychoanalytischen Zeitschriften, wenn Sie sie aufschlagen, sind die keuschesten, die es gibt. Man erzählt keine Bumsgeschichten mehr, man überlässt das den Tageszeitungen.«
– Jacques Lacan (1967)[1]
Der Psychoanalytiker Éric Bidaud konstatiert, dass sich die Psychoanalyse – im Gegensatz zu Philosophie, Linguistik, Filmwissenschaft und Soziologie – bislang wenig mit dem Thema Pornografie befasst habe (S. 26). Nach den klassischen Arbeiten von Robert Stoller und anderen, die Bidaud als »pré-porno« (S. 73) bezeichnet, weil sie noch vor der digitalen Porno-Expansion verfasst wurden, seien in jüngster Zeit aus analytischen Kreisen vor allem alarmierende Stimmen zu vernehmen. Die Ausbreitung von Pornografie, so verkünden einige analytische Autoren, führe zu einer »progressiven Erosion der Fantasietätigkeit« (Vincent Estellon, zit. auf S. 94), zur Brutalisierung der Jugendsexualität, zur Zunahme an Süchten. Bidaud problematisiert diese »Pathologisierung« von Pornokonsum und vergleicht sie mit den Schwierigkeiten vieler Analytiker, mit neuen Formen der Elternschaft oder geschlechtlicher Identität zurecht zu kommen (S. 27). Die Versuche vieler Analytiker, kausale Wirkungen von Pornografie auf ihre Konsumenten zu bestimmen, widersprächen einer analytischen Haltung (S. 164). Bidaud selbst spricht vor dem Hintergrund seiner »klinischen Erfahrung mit Jugendlichen«, aber auch »meiner eigenen Klinik«, womit er die Auseinandersetzung mit einem Gegenstand meint, »welcher eine Epoche definiert, der ich anzugehören versuche« (S. 30f.).[2]
Bidauds Buch ist in vier Kapitel unterteilt, die die Fülle der Überlegungen nur lose ordnen. Der Text bringt zahlreiche Ideen ein, die dem Rezensenten mal mehr, mal weniger überzeugend, insgesamt aber durchaus anregend erscheinen. Im Folgenden sei nur Einzelnes herausgegriffen.
Das erste Kapitel trägt den Titel »Die Psychoanalyse auf die Probe gestellt vom Unanständigen«, der eine reflexive Bewegung analytischen Denkens ankündigt.[3] Das wird nur teilweise eingelöst; häufig werden hier, wie im ganzen Buch, unterschiedliche psychoanalytische Theoreme am Gegenstand Pornografie erprobt. Das Kapitel widmet sich dem Wissenstrieb, der sich in der Pornografie materialisiere, und den der Autor über Foucault (Sexualitätsdispositiv), Freud (Schautrieb, Bemächtigungstrieb) und Lacan (Jouissance des Wissens, die Bidaud mit dem Lacan’schen Ding in Verbindung bringt, S. 42) herleitet. Darüber hinaus bemüht sich Bidaud um eine Abgrenzung von Perversion und Pornografie. Die Perversion stelle einen Angriff auf die genitale Beziehung der Eltern dar, wogegen pornografische Präsentationen für gewöhnlich konventionell-ödipal seien: »Papa-Mama-Porno« (Ovidie, zit. auf S. 49f.). Auch seien pervers strukturierte Subjekte in ihren Fantasien beschränkter und weniger spielerisch, was sie für das pornografische Angebot weniger empfänglich mache (S. 51ff.). Dem Rezensenten erscheint diese Gegenüberstellung zu einfach; auch Pornokonsum kann anti-ödipal, starr oder fantasielos sein. Treffender wäre es wohl, neurotische und perverse Modi des Pornokonsums zu differenzieren.[4]
Das zweite Kapitel widmet sich der Adoleszenz. Bidaud konzentriert sich hier auf das Moment der Verführung und des Rätsels der Sexualität, das in dieser Lebensphase neu bearbeitet werde: »Die Sexuierung in der Pubertät ist der Ort einer Interpretation hinsichtlich des neuen Rätsels, das von diesem Anderen des sexuellen Aktes gestellt wird, mit dem ich ›umgehen‹ muss. Die Pubertät ist in diesem Sinne eine zweite Urverführung.« (S. 109) Dem Konsum von Pornografie komme hierbei eine mehrdeutige Funktion zu, er sei zugleich »Neutralisierung«, »Suspendierung« wie auch »Einrahmung« des Sexes, ferner eine »Bühne« der Selbsterprobung (S. 107f.). Mit Laplanche, auf den Bidaud sich hier bemerkenswerterweise nicht bezieht, könnte man Pornografie auch als mytho-symbolische Übersetzungshilfe begreifen, die die rätselhaften Botschaften aus der Kindheit vor dem Hintergrund der pubertären Reifung des Geschlechtskörpers zu (re)interpretieren und damit auch notwendigerweise zu verdrängen hilft.[5] – Das Kapitel enthält weiterhin interessante Überlegungen zum adoleszenten Neudurchlauf des Spiegelstadiums (S. 140), zur Dialektik von Gesicht und Genitalien (S. 137ff.) und zur pornotypischen extrakorporalen Ejakulation, die Bidaud mit Freuds Überlegungen zur Gewinnung des Feuers liest: »Das Phantasma: aufs Feuer zu pinkeln, um es zu löschen, entspricht heute dem Phantasma: aufs Feuer des Begehrens zu ejakulieren« (S. 134).
Im dritten Kapitel befasst sich der Autor mit dem Verhältnis von Pornografie und Liebe. Pornos seien ein exemplarischer Ausdruck der Auftrennung von Begehren und Liebe, von zärtlicher und sinnlicher Strömung der Libido (S. 142), die Freud als typisch für die männliche Sexualität beschrieb[6]; lediglich im feministischen Porno werde diese Auftrennung mitunter aufgehoben (S. 146f.). Das typische pornografische Szenario »stellt die Frage der Liebe, indem es sie ausklammert, sie maskiert als ein Element, das den Bedingungen der Erregung und der Lust entgegensteht« (S. 143). Der Autor bemüht sich zugleich, die Möglichkeit eines »neuen Dialogs zwischen Sex und Liebe« (S. 144) in der Pornografie zu erblicken. Allerdings bleibt er dabei verhältnismäßig vage.
Das letzte Kapitel ist der »Pornografischen Kultur« gewidmet. Bidaud greift hier unter anderem Foucaults Differenzierung von Utopie und Heterotopie auf. Utopien seien ideale, aber irreale Orte, Heterotopien hingegen reale Gegenräume, an denen die Regeln der Kultur zugleich repräsentiert, bestritten und partiell aufgehoben werden (z.B. Gefängnisse, Friedhöfe oder sakrale Räume).[7] Den Ort des Spiegels, der einen irrealen Raum öffnet, zugleich aber mit dem ihm umgebenden realen Raum durch dessen Widerspiegelung in Verbindung bleibe, hatte Foucault als Phänomen an der Grenze von U- und Heterotopie beschrieben.[8] In einer ähnlichen Zwischenposition verortet Bidaud auch die pornografische (Spiegel-)Welt (S. 180).[9] – Darüber hinaus geht Bidaud auf obszöne Kunst ein – explizit erwähnt wird v.a. der Wiener Aktionismus –, die er von der inzwischen normalisierten Pornografie als Masturbationsvorlage abgrenzt (S. 189ff.). Pornos seien heute weder obszön noch transgressiv.
Bidauds Buch ist ein Versuch, das Phänomen des veralltäglichten Pornografiekonsums vor allem von Jugendlichen mit einer Reihe von Theorien aufzuschlüsseln. Zweifellos lässt es dabei einige Leerstellen. Zur Bedeutung des Pornokonsums bei sexuellen Minderheiten, zu Phänomenen des Web 2.0 (Amateurpornografie, Sexting) oder zum häufig ambivalent erlebten Pornokonsum von Frauen/Mädchen hat das Buch recht wenig zu sagen. Auch ist bedauerlich, dass der Autor kein klinisches Material liefert. Dennoch bietet das Buch eine Fülle von interessanten Ideen – was insbesondere der neugierig-analytischen Haltung zu verdanken ist, mit der der Autor sich auf den Gegenstand einlässt.
[1] Zitiert nach Bidaud, S. 26 (Übersetzung dieses und aller folgenden Zitate: AL).
[2] Auch hier hätte er sich auf Lacan berufen können: »Wer den Horizont der Subjektivität seiner Epoche nicht zu erreichen vermag, sollte also lieber darauf verzichten, Analytiker zu werden. Denn wie kann er sein Dasein zur Achse so vieler Leben machen, wenn er selbst nichts von der Dialektik versteht, die ihn mit diesen Leben in einer symbolischen Bewegung verbindet.« Lacan, Jacques: Funktion und Feld des Sprechens und der Sprache in der Psychoanalyse. In: ders., Schriften I, übers. von K. Laermann, Weinheim, Berlin 1996, Quadriga, S. 71–169, hier S. 168
[3] Erinnert sei hier an den gleichsinnigen Titel La Psychanalyse à l’épreuve de l’Islam von Fethi Benslama, der (der Intention des Autors zuwider) ins Deutsche mit Psychoanalyse des Islam übertragen wurde.
[4] Pornografiesucht, die es durchaus gibt, wäre in diesem Sinne als Perversion zu verstehen. Vgl. Berner, Wolfgang: Perversion. Gießen 2011, Psychosozial, S. 81ff.
[5] Vgl. Laplanche, Jean: Mythos und Theorie in der Psychoanalyse, in: Psyche – Z Psychoanal, 2021, 75. Jg., Heft 8, S. 710–736.
[6] Viele psychoanalytische Kommentatoren sind auf einen ähnlichen Gedanken gekommen, z.B. Berner, Wolfgang; Koch, Judith: Über die allgemeinste Erniedrigung des Liebeslebens heute, in: Zeitschrift für Sexualforschung, 2009, 22. Jg., Heft 4, S. 340–352; Müller-Pozzi, Heinz: Vom Unvermögen, produktiv zu fantasieren. Gegenbesetzung – Besetzungsabwehr – Externalisierung, in: Merk, Agatha (Hg.): Cybersex – Psychoanalytische Perspektiven, Gießen 2014, Psychosozial, S. 61–76; Lahl, Aaron: Guilty pleasure. Rekonstruktion eines Falles von konflikthaftem Pornografiekonsum, in: psychosozial, 2023, 46. Jg., Heft 3, S. 68–80
[7] Foucault, Michel: Die Heterotopien. Der utopische Körper. Zwei Radiovorträge, Frankfurt/M. 2013, Suhrkamp
[8] Foucault, Michel: Andere Räume, in: Barck, Karlheinz u.a. (Hg.): Aisthesis – Wahrnehmung heute oder Perspektiven einer anderen Ästhetik, Leipzig 1990, Reclam, S. 34–46, hier S. 39
[9] Zu einem ähnlichen Ergebnis kommt Arne Dekker in seiner Analyse von Raumkonstruktionen im Cyber-Sex. Die Raumkonstruktion beim Cybersex könne aber individuell eher utopisch oder heterotopisch ausfallen. Bei utopischen Raumkonstruktionen liege der Akzent auf dem fiktionalen Raum, was mit einem starken Immersionserleben und Irritationen bei technischen Störungen einhergehe. Bei heterotopischen Raumsynthesen sei die realweltliche Anbindung und der materielle Körper stärker betont. Decker, Arne: Online-Sex – Körperliche Subjektivierungsformen in virtuellen Räumen, Bielefeld 2012, transcript, Kap. 3
Stephan Engelhardt: Szene des Begehrens – Das Kunstwerk als intersubjektiver Spielraum libidinöser Projektionen, Gießen 2021, Psychosozial-Verlag, rezensiert von Niclas O‘Donnokoé
Zugegebenermaßen musste sich der Rezensent durchringen, die metatheoretische Setzung des vorliegenden Werkes von Stephan Engelhardt zu akzeptieren. Beobachten lässt sich eine Art Potenz-Diskurs, in dem überlieferte psychoanalytische Konzepte als omnipotente Aufschlüsselungs-instrumente für kanonische Kunstwerke der gesamten Menschheitsgeschichte genutzt werden. Interessant wird es, wenn die besprochene Kunst durch das Auftreten von Dekonstruktion und Performativität den Zugang des Buchs mit theoretisch nicht Einholbarem konfrontiert und so unterläuft. Das Ganze muss in einer Verfallsdiagnose mit der Postmoderne als Sündenbock enden. Doch der Reihe nach.
Die titelgebende »Szene des Begehrens« – lose an Lorenzers Konzept des szenischen Verstehens angelehnt – ist das theoretische Bild, das Engelhardts Parcours durch die Kunstgeschichte zusammenhalten soll. Er betrachtet den »künstlerischen Prozess als einen kreativen Vorgang […], der verinnerlichte Beziehungserfahrungen aktiviert« (S. 126). So bildet sich zwischen dem produzierenden Subjekt, dessen unbewusstem Begehren und dem containenden Kunstwerk eine triangulierte Szene. Das Kunstwerk wird als »Dokument des Triebschicksals« (S. 24) der Künstler*in verstanden. Dieses kann dann eine neue Szene (z.B. im Museum) für das rezipierende Subjekt ermöglichen. In dem durch das Kunstwerk bereitgestellten »intermediären Raum« kann das rezipierende Subjekt ebenfalls zu einer triangulierenden Beziehungserfahrung gelangen und beim Betrachten zwischen verschiedenen Szenen oszillieren: So ist beispielsweise die Beziehung der im Bild dargestellten Elemente zueinander ebenso von Bedeutung wie die sich einstellende Szene vor dem Kunstwerk, in der das rezipierende Subjekt durch projektive und identifikatorische Prozesse mit dem Werk in Beziehung tritt.
Engelhardts Buch besteht neben dieser Metaperspektive vor allem aus unzähligen Analysen konkreter Kunstwerke der kanonischen Kunstgeschichte – vom alten Ägypten über Caravaggio bis Duchamp und Abramović. Da subjektive Gegenübertragungsschilderungen fehlen, interessiert sich Engelhardt weniger für die von ihm beschriebene Szene vor dem Kunstwerk. Stattdessen ist das Ziel des schreibenden Psychoanalytikers die Rekonstruktion der Künstler*innenpsyche.
»Der Autor des Textes nimmt eine therapeutische Position ein und betrachtet das Kunstwerk wie einen Traum, wie eine Assoziation, wie eine Imagination als originäres Dokument eines innerpsychischen Geschehens einer anderen Person in einer historisch gewachsenen, sozioökonomischen und kulturellen Situation.« (S. 52)
Das Kunstwerk wird als (pathologisches) Symptom verstanden, als Produkt verschiedener Abwehrmechanismen, die die »primären Affekte einer Verdichtung, Verschiebung, Kompromissbildung, Überformung und schließlich einer Symbolbildung« (S. 321) zuführen. Im Prozess der Kunstanalyse soll dann die »der gegenwärtigen Szene zugrunde liegende […] ursächliche Szene« (S. 43) gefunden werden. Die noch unbewussten Inhalte sollen dann in einem »Prozess der Mentalisierung« (S. 19) und Verbalisierung herausgearbeitet werden. Die Haltung des Kunstbetrachtenden ist von derjenigen der Analytiker*in nicht zu trennen.
Besonders bei den Künstlern der Renaissance wird Engelhardt zum psychoanalytischen Diagnostiker. So werden beispielsweise Hieronymus Boschs Höllengemälde mit Sigmund Freud als regressives Wiedererleben der fantasierten Urszene verstanden, mit Melanie Klein als sadistische Fantasien von aggressiven Selbstanteilen und verfolgenden Objekten oder mit Bion als »bizarre Objekte« und nicht verarbeitete Beta-Elemente. Raffaels berühmte Madonnenbildnisse werden als symbolische Konservierung der idealisierten, präödipalen Mutter durchdekliniert. Die gewaltsam-triumphalen Szenen auf Caravaggios Gemälden dienen Engelhardt für die Diagnose einer narzisstischen Persönlichkeitsstörung auf Borderline-Niveau mitsamt Abwehr der Identifikation mit dem Aggressor, den Engelhardt im frühen, cholerischen Vater des Künstlers findet.
Wie zu sehen ist, ist Engelhardts Studie zunächst ein interessantes Phänomen des psychoanalytischen Schulenpluralismus. Konzepte der unterschiedlichsten Denkschulen werden in einem Atemzug verwendet. Freud, Reich, Klein, Bion, Winnicott, Lacan, Laplanche, Mitscherlich, Lorenzer, Kernberg, Kohut, Fonagy, Ogden: Alle und noch einige mehr sind Teil von Engelhardts theoretischem Werkzeugkoffer. Jedoch stehen die einzelnen Perspektiven häufig unverbunden nebeneinander, anstatt ein schlüssiges Gesamtbild zu ergeben. Die Kunstphänomene werden von allen Seiten (auch von Philosophie, Soziologie, Geschichtswissenschaft, Kunsttheorie und den biografischen Fakten der Künstlerpersönlichkeiten) um-stellt und mitunter ver-stellt. Das inhaltliche Durcheinander spiegelt sich auch in der Überschriftenstruktur, deren Ordnung sich dem Rezensenten nicht immer erschließt und teils inhaltlich fehlerhaft wirkt. So kommt es vor, dass Begriffe oder Namen, die in einer Überschrift genannt werden, gar nicht im dazugehörigen Text aufgegriffen werden (z.B. Kapitel II.1.5.3 auf S. 247 oder Kapitel III.2.7 auf S. 468). Dadurch wirkt das Buch wie ein unfertiger Zettelkasten. Das ist nicht immer schlecht: Wird das Werk als lexikalische Materialsammlung interdisziplinärer Zugänge verstanden, deren Synthese und weiterführende Analyse noch zu leisten ist, lässt sich einiges an inspirativen Erkenntnissen finden. Die Fülle an vorliegendem Material ist durchaus beeindruckend.
Das größere Problem des Projekts ist, dass Engelhardt bei seiner Suche nach Bedeutung ausschließlich auf bereits Bekanntes stößt, nämlich auf etablierte psychoanalytische Konzepte, als würde er vor sich selbst Ostereier verstecken, die er dann anschließend finden kann. Engelhardt versucht vorzuführen, dass die Psychoanalyse wirklich alles erklären kann – selbst wenn es sich um Jahrtausende alte Reliquien handelt. Eines der ersten datierten Kunstwerke der Menschheitsgeschichte aus dem marokkanischen Tan-Tan (ein in Menschengestalt geformter Sandstein) wird mit Kohut als die Wiederherstellung eines verlorenen idealisierten Selbstobjekts gedeutet, das die Selbstkohärenz sichern soll. Daraufhin wird die berühmte Kalksteinfigur Venus von Willendorf, etwa 25.000 vor Christus entstanden, mithilfe von Winnicott als Übergangsobjekt gedeutet, das sadistische Impulse gegen das mütterliche Primärobjekt integriert. In verschiedenen ägyptischen Mythen werden dann ödipale Szenen (Freud), die Unmöglichkeit das Objekt des Begehrens zu besitzen (Lacan) und Wiederherstellungen des verlorenen Objekts (Klein) gefunden.
Sicher ist es faszinierend, der geschichtlichen Kontinuität psychoanalytischer Strukturen und Konzepte nachzuspüren. Die selbstverständliche Gewissheit der Geste, mit der die Deutungen vorgenommen werden, hintergeht dabei aber nicht nur den psychoanalytischen Impetus eines Denkens, das sich ständig irritieren und unterlaufen lässt, um weiterzukommen. Vielmehr übergeht Engelhardt die methodischen Erkenntnisse, die in den letzten Jahrzehnten von der Ethnologie (auch der Ethnopsychoanalyse) und dem Postkolonialismus bezüglich des Umgangs mit dem Anderen gemacht wurden. Simpel zu verstehen, aber schwierig ins Denken zu integrieren, ist die Erkenntnis, dass wir beim Blick in die Fremde vor allem das Eigene sehen. Es erfordert langes, reflektierendes Durcharbeiten, die dialektische Verwobenheit der eigenen Projektionen mit dem Anderen des Untersuchungsgegenstandes sichtbar zu machen. Dass dies für die gesamte Kunstgeschichte durch einen einzigen Mann gelingen soll, zeigt leider vor allem die Hybris, der sich psychoanalytische Kulturtheorie nicht selten schuldig macht. Durch die Kürze, in der die Analysen jahrtausendealter Reliquien vorgenommen werden, bleiben die Deutungsangebote thesenhaft und wenig überzeugend. Die Lücken zwischen der vergangenen Erfahrung beim Entstehen des Kunstwerks, der sinnlichen Eindrücke bei der gegenwärtigen Betrachtung und zuletzt den theoretischen Konzepten, die beides sichtbar machen, werden in Engelhardts Denken zugunsten der Letzteren geschlossen. Dabei ist die Reflexion der Nachträglichkeit und Fiktionalität (psychoanalytischen) Theoretisierens eine lohnende Herausforderung, deren Reflexionsschleifen spätestens mit Freuds Schwierigkeiten bei der zeitlichen Verortung der Urszene des sogenannten »Wolfsmannes« begannen.
Je mehr sich der Zeitstrahl der vorgeführten Geschichte in die Moderne hineinbewegt, desto stärker verändert sich die Leseerfahrung, da die geistigen Umwälzungen des 19. Jahrhunderts die Entstehungsbedingungen für die Psychoanalyse liefern und sich das Werk so einer Selbstreflexion seiner Methodik zumindest annähert. Den historisch-geistigen Kontext der Moderne beschreibt Engelhardt als zunehmende Zentrierung auf subjektive Autonomie durch den entstehenden Individualismus, der jedoch das Andere des Subjekts mitproduziert. Ausführlich werden dabei immer wieder die Nähe und Differenz der Psychoanalyse zur philosophischen Tradition (vor allem Nietzsches Denken) und den aufkeimenden modernen Kunstformen gezeigt. Bei Letzteren nimmt vor allem der Surrealismus und dessen Versuch, sich durch traumartige, automatische Prozesse einem künstlerischen Subjekt jenseits des rationalen Bewusstseins anzunähern, eine zentrale Stellung ein.
Dann geschieht dem Buch etwas ebenso Eigenartiges wie Notwendiges: Die besprochene Kunst überholt die psychoanalytische Reflexion. Im großen Kapitel über den abstrakten Expressionismus und die Avantgarde nach 1945, die schließlich in die Performance-Kunst führen wird, wirken die immer seltener werdenden biografischen Erklärungsmodelle und die daraus abgeleiteten Diagnosen nur noch pflichtbewusst und anekdotisch. Stattdessen wird sich stärker an der Philosophie (z.B. Sartres als Ekstase des bewussten Handelns verstandener Existenzialismus) oder der Theaterwissenschaft (Ko-Präsenz, Feedbackschleifen, verkörpertes Gedächtnis) bedient. Auch sind die Kunstakteure mittlerweile psychoanalytisch geschult und kommen selbst zu Wort. So beschreiben die Künstler des Wiener Aktionskreises um Hermann Nitsch und Otto Muehl ihre blutigen, sakralen Aktionen als ekstatische Entladungen blockierter Affekte traumatischer Situationen und als Befreiung perverser Partialtriebe.
Der Diskurs der Psychoanalyse scheint vom Diskurs der Kunst angeeignet und in eine soziale Praxis überführt worden zu sein, die selbst noch mehr vermag: Durch die ausgestellte Selbstreferenzialität und die Infragestellung der Abgrenzbarkeit von Kunst und Nicht-Kunst werden theoretische und soziale Rahmungen als solche sichtbar und kontingent. Engelhardts Beschreibungen der Happenings und die Zitierungen von Wissenschaftler*innen sowie der Künstler*innen selbst vermitteln ein zwar lose zusammenhängendes, aber eindrückliches Verständnis für die Neuheit und Intensität der künstlerischen Entwicklungen in der Nachkriegszeit. Nur gelegentlich fällt Engelhardt in seinen biografischen Reduktionismus zurück. So symbolisiere der tote Hase, den Joseph Beuys in einer Performance liebevoll durch seine Ausführung führte, ein beschädigtes Selbstobjekt, das den traumatischen Kern (seiner Kriegserfahrungen, die sich mit der frühen Kastrationsangst verbanden) imaginär umhülle und dadurch verortbar mache (S. 428). Diese Deutung ist zwar schlüssig, verdeckt jedoch entscheidende Aspekte der Kunst. Die schamanistische Mythologie, der Natursymbolismus und der erweiterte Kunstbegriff, der Beuys die Gesellschaft als »soziale Plastik« denken ließ, wären diejenigen Elemente, die eine Subjekttheorie wirklich herausfordern und zu einer neuen Perspektivierung führen könnten. Die Radikalität der Epoche spiegelt sich schließlich in der Theorieproduktion der sogenannten Postmoderne. Mit welchen Herausforderungen die dekonstruktivistischen Denkformen Engelhardts eigenen Ansatz konfrontieren wird deutlich, wenn Roland Barthes mit einem Vorwurf zitiert wird, der die vorherigen knapp 400 Seiten von Engelhardts Buch zusammenfasst: »Daher die vielen unsinnigen Fragen, die der Kritiker an den toten Schriftsteller richtet, an sein Leben, an die Spuren seiner Absichten […]. Man will um jeden Preis den Toten zum Sprechen bringen – oder seine Substitute: seine Epoche, die Gattung, den Wortschatz, kurz alles, was für den Autor zeitgenössisch war« (S. 366). Die Selbstständigkeit, die poststrukturalistische Theoretiker*innen sozialer Materie zugestehen, ob sie sie als Diskurs, Macht oder Kunst bezeichnen, sollte eigentlich an die von der Psychoanalyse geleistete Dezentrierung des Subjekts anschlussfähig sein. Dazu müsste sich diese ihrer eigenen dekonstruktivistischen Form bewusst sein. Engelhardt hingegen gehen die Poststrukturalisten zu weit: Foucaults und Barthes Dekonstruktion sei ein »Missverständnis« (S. 367), das die Befragung des Subjekts unmöglich mache. An dieser Stelle greift Engelhardt das erste Mal wertend ein: Die Postmoderne führe zu einer Dissoziation, also zu haufenweise Material, ohne dass durch Assoziation neue Deutungen vorgenommen werden. Engelhardts Text durchzieht so stellenweise eine Verfallsthese, die vor dem »Sperrfeuer des desymbolisierten Klischees« (S. 469), vor nicht mehr symbolisch kontrollierbaren Hyperrealitäten der Codes und singulärem Spektakelkult warnt. Leider schafft er es nicht, der Dekonstruktion auf der Ebene der Subjektkonstitution zu begegnen. Er könnte die postmodernen Vorstellungen ja durchaus tiefenpsychologisch kritisieren, zum Beispiel als omnipotente Fantasien, um dann deren Rückwirkung auf die soziale Konstruiertheit der historischen Subjekte zu untersuchen. Stattdessen kritisiert Engelhardt die Dekonstruktion von außen mit einer vulgären Kapitalismuskritik, die eine hypermoderne Beziehungs- und Subjektlosigkeit ankreidet. In jenen Passagen erscheint Engelhardts Argumentation als nostalgische Sehnsucht nach den Leinwand-Subjekten der Renaissance, in der die patriarchal-ödipale Ordnung durch Kirche und Staat garantiert war. Und die Deutungen noch leicht fielen.
Signorelli. Psychoanalyse & Kulturtheorie, Heft 1, 2022: Möglichkeiten und Grenzen der Psychoanalyse, hg. von Gesellschaft für Psychoanalyse und Kulturtheorie e.V., rezensiert von Karl-Josef Pazzini
Bei einer ersten Nummer einer neuen Zeitschrift bin ich gespannt auf das Editorial: Nacherzählt wird die Geschichte einer Fehlleistung, die der Zeitschrift den Namen gab, für ein psychoanalytisches Projekt eine großartige Programmatik. Herausgegeben wird die neue Zeitschrift von der gemeinnützigen Gesellschaft für Psychoanalyse und Kulturtheorie. Die Abo-Bedingungen finden sich im Internet, eben dort auch ein zugehöriger Blog.
»Als Gesellschaft für Psychoanalyse und Kulturtheorie e.V. haben wir uns zum Ziel gesetzt, Freundinnen und Freunden der Psychoanalyse, Studenten, Nachwuchswissenschaftlern, angehenden Klinikern sowie Interessierten einen Ort zu bieten, um ihre Überlegungen zu psychoanalytischen und kulturtheoretischen Themen in Form von Essays, Glossen und anderen Beiträgen zur Diskussion zu stellen.«[i]
Psychoanalyse wird nicht zum schmückenden Adjektiv der Kulturtheorie, sondern macht mit ihr ein Spannungsfeld auf. In der vorliegenden Ausgabe deutlich inspiriert von der Kritischen Theorie, deren immer noch oder wieder frischen Einsichten. Vorgesehen sind für jede Ausgabe drei Essays, mehrere Gespräche zu einem Stichwort, dieses Mal zu »Möglichkeiten und Grenzen der Psychoanalyse«, ferner Glossen.
Der erste Essay ist von einem Menschen, der ausweislich der Angaben zu den Beteiligten »lebt und arbeitet« (S. 130), mehr nicht, Ernst Bittermann. Was auch immer Grund für das Pseudonym gewesen sein mag: Es wird eine sehr süße, frische, auch fröhlich kenntnisreiche Auseinandersetzung mit Erich Fromm geboten und ähnlich gesellschaftskritische Impulse weichspülenden Theorien etwa von Hartmut Rosa, Axel Honneth und Bernhard Görlich. Soziologisierung, Vergeistigung und Moralisierung werden von einer ins Detail gehenden Kritik Fromms als Entschärfung der Psychoanalyse ausgemacht, getrieben (allerdings mit einem depotenzierten, interaktionistisch weichgespülten Triebbegriff) von der Sehnsucht, Freuds naturwissenschaftliche Gründe des Denkens auszutreiben, etwa mit dem seit Habermas beliebten Biologismusvorwurf. Der neofreudianische Revisionismus werde schon von Adorno und Marcuse als Ausblendung des Antagonismus zwischen Individuum und Gesellschaft kritisiert, dabei verloren gehe das Erkenntnispotenzial für gegenwärtige Zurichtungs- und Unterdrückungsmechanismen. Bittermann sieht zwar den soziologischen Zug auch seiner Kritik, kann aber zeigen, dass der reale Widerspruch zwischen Individuum und Gesellschaft, so wie er in der theoretischen Vielfalt und Widersprüchlichkeit der Psychoanalyse bei Freud persistiert, der spannungsreichen Genese des Subjekts zwischen Individuum und Gesellschaft besser Geltung verschaffen kann. Ein Hinweis auf die sprachliche Verfasstheit des Triebs, eines fait social, wie schon Freud es betont, hätte dies noch deutlicher gemacht. Bei der Lektüre leuchtet ein, dass die kritisierte Art der Soziologisierung den Effekt hat, dem Individuum allein und als einzigem, nicht als politischem die Bürde der Veränderung aufzudrücken und das Beschädigende, Gewaltsame, Traumatische als fehlende Anpassungsleistung anzugehen. Bittermann erinnert an Adornos Ermunterung, weiter zu forschen: »Keine Forschung reicht bis heute in die Höllen hinab, in der die Deformationen geprägt werden, die später als Fröhlichkeit, Aufgeschlossenheit, Umgänglichkeit, als gelungene Einpassung ins Unvermeidliche und als unvergrübelt praktischer Sinn zutage kommen« (Minima Moralia). Im aktuellen Revival frommscher Arbeitspsychologie entdeckt Bittermann einen Wiederbelebungsversuch eines rheinischen, humanistischen Kapitalismus.
Henning Lampe schließt mit seiner genauen Betrachtung des laplanchen Triebbegriffs hier an. Auch er lässt sich in seiner Lektüre von Adorno ermuntern. Im Gegensatz zu Fromm behalte Laplanche den freudschen Triebbegriff bei. Lampe wundert sich, dass er »sich trotzdem großer Akzeptanz erfreut und weitgehend affirmativ rezipiert wird« (S. 37). Als einen Grund macht er Laplanches Apotheose des Individuums aus. Lampe hebt heraus, dass Laplanche bei Freud Unausgearbeitetes entdeckt (S. 44). Dieses sei aber nicht alles theoretisch zu glätten. Der Rezensent sieht hier Verbindungen zum Beitrag von Bittermann: Man könnte in der Psychoanalyse Freuds eine lange nicht erledigte Produktivität einer unaufgelösten Harmonisierung zwischen Naturwissenschaften, Hermeneutiken und Künsten sehen. – Der Trieb, so kann Lampe detailreich nachbuchstabieren (S. 38ff.), werde in seiner von Freud so angelegten antinomischen Paradoxalität von Laplanche ins Exogene entsorgt. Dabei gerate das Körperliche gegenüber dem Psychischen ins Abseits. – Aufmerksam geworden durch die Kritik an Laplanche fragt sich der Rezensent bei den Rückversicherungen Lampes an Freud, ob nicht bei Freud ebenso harmonische Vorstellungen einer Ataraxia durch Neutralisierung von Reizen immer wieder durchschimmert (S. 50).
Pierre-Carl Link trägt »Überlegungen im Anschluss an Foucault« bei: Biografische Stückchen werden genutzt, um die historiografische Entwicklung der Psychologie zu belegen, die, so Link, Foucault am Herzen lag. Die Belege haben psychologisierenden Charakter, was wohl auch daran liegt, dass sie zum großen Teil von Eribon übernommen wurden. Mehrfach angedeutet und erwähnt wird Foucaults Homosexualität und wir erfahren über Eribon, dass Foucault sie »sehr schlecht ausgelebt und verarbeitet« habe (S. 62). Das bleibt Kolportage und wird nicht in eine Argumentation übersetzt. Auch »Wahnsinn und Gesellschaft« sei sehr eng mit Foucaults persönlicher Geschichte verknüpft (S. 63).
Es folgen in der Rubrik »Stichwort« vier Gespräche mit Dominik Finkelde, Martin Altmeyer, Udo Rauchfleisch und Tilmann Moser. Gefragt ist nach den Möglichkeiten und Grenzen der Psychoanalyse. Diese werden in den Gesprächen gestreift. Sie können wie kurze, gute Einführungen in das jeweilige Denken genutzt werden. Etwas schade finde ich, dass die Gesprächspartner von Signorelli fast nur Stichwortgeber sind, nicht aber die Befragten und sich selbst an die genannten Grenzen führen.
Die Glosse von Stefan Hain erinnert an einen gemeinsamen Anlass von Marxismus und Psychoanalyse, die Krise der bürgerlichen Gesellschaft, und weist auf die Wurzeln der International Psychoanalytic University hin: »Die zivilisierte Barbarei der autoritären und chaotischen Gesellschaft hat nicht wenige Studierende und deren Anhänger (zugegeben: es sind weit weniger geworden) in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts einer scheinbaren Lösung zugetrieben: Psychoanalyse.« (S. 117). Hain macht auf die theoretischen, die ungehobenen Möglichkeiten des nicht nur theoretischen Zusammenhangs von Marxismus und Psychoanalyse mit Rekurs auf Trotzki, Horkheimer und Adorno aufmerksam. Gemeinsam sei Kritischer Theorie, Psychoanalyse und Marxismus deren Unmöglichkeit. Ich würde übersetzen: Diese Theorien lassen sich nicht managen. Damit käme ich dem Vorschlag von Hain nahe: »nur wenn wir den Tod anerkennen [eben das unmöglich Beherrschbare; KJP], um nicht von depressiver Angst in Geiselhaft genommen oder der psychotischen überwältigt zu werden – nur dann können wir fragen, wie wir leben wollen.« – Das ist allerdings nicht nur eine Sache individueller Entscheidung, sondern auch unbewusst, nur in Übertragung, also kollektiv anzugehen.
Benedikt Salfeld führt die Produktivität des namengebenden Lapsus, Signorelli, vor und verknüpft damit eine Kritik an der Freudrezeption: »War man in der, im besten Sinne, naiven Frühphase der Psychoanalyse noch an der Anwendung der von Freud formulierten Theorien selbst interessiert und erprobte unbekümmert an eigenen Beispielen, wird mit der Zeit eine gewisse Tendenz zur auslaugenden Selbstbezüglichkeit in der Rezeption erkennbar: Die Theorien Freuds werden auf ihn und sein Werk appliziert.« (S. 123) Die einen »stürzen sich« aufs Semantische, die anderen aufs Assoziationsanstiftende, symbolistisch bei Jung, und bei Lacan bezogen auf das Sprachmaterial zu immer neuen Übersetzungen und Allusionen führend (S. 124). Die Glosse endet mit einer weiteren Rehabilitierung des »Triebs« als widersprüchlichem, paradoxalem, Theorie und Praxis vorantreibendem Moment wie schon in den Essays von Bittermann und Lampe. Der Schluss wird vielleicht zum Motto der weiteren Arbeit in der Zeitschrift: »Wer erinnert, leidet, weiß aber immerhin um den Grund seines Leidens in der Gegenwart oder aber er wird der Schönheit des Verlorenen gewahr. Die Erforschung von Fehleistungen, wie der Signorelli eine war, könnte letztlich der Impuls zum Erinnern von etwas Fehlendem betrachtet werden. Ob der auf etwas Fehlendes verweisende Fehler auf abgewehrtes Leiden oder den Verlust von etwas Wünschenswerten verweist, muss die Analyse erweisen.« (S. 128f.) Fehlleistungen können allerdings auch ob der Fülle entstehen, für die es im Moment noch keine methodisch abgesicherten Artikulationsmöglichkeit gibt.